Kann eine höhere Wahlbeteiligung durch mehr Bürgerbeteiligung erreicht werden? Wohl kaum. Die Ursachen liegen tiefer – Eine Entgegnung auf Dirk Hartwich

Seit Jahrzehnten lenkt eine Handvoll Parteipolitiker im Rathaus die Geschicke der Stadt

Von Helmut Frenzel

18. August 2017. – Kürzlich veröffentlichte die ,,Dorstener Zeitung“ ein Interview mit Dirk Hartwich, Mitglied des SPD-Ortsvereins Rhade und früher Mitglied im Rat der Stadt Dorsten. Er sorgt sich um die sinkende Wahlbeteiligung bei den Kommunalwahlen, die manche als ein Zeichen für die schwindende Akzeptanz unseres Demokratie-Modells verstehen. Einen Weg, dem entgegenzuwirken, sieht er in mehr Beteiligung der Bürger an Entscheidungen der Politik. Die bisherigen Formen der Bürgerbeteiligung reichen ihm nicht. Er sagt: ,,Was allgemein Bürgerbeteiligung genannt wird ist in der Regel eine nicht repräsentative Meinungsabfrage von Bürgern, die den Weg zu einer Info-Veranstaltung gefunden haben und dort mitdiskutieren dürfen. Das hat mit echter Beteiligung ziemlich wenig zu tun.“ Dirk Hartwich macht Vorschläge, wie die Bürger in Dorsten über das vorhandene Maß hinaus noch besser an der politischen Meinungsbildung beteiligt werden könnten. Seine Vorschläge zielen auf eine Wiederbelebung des Interesses der Bürger an politischen Themen und letztlich darauf, dass sich auf diese Weise mittelfristig eine Erhöhung der Wahlbeteiligung erreichen lasse.

Dirk Hartwich (SPD)

Die Sorge von Dirk Hartwich ist aller Ehren wert und es verdient Anerkennung, dass er sich Gedanken um das Funktionieren des politischen Systems macht. Aber ist mehr Bürgerbeteiligung, in welchen Formen auch immer, der richtige Ansatz? Mehr Bürgerbeteiligung kann vieles heißen. Wie weit soll sie gehen, wo sind die Grenzen? Wann ist genug Bürgerbeteiligung erreicht? Zudem kommt man an zwei Argumenten gegen mehr Bürgerbeteiligung nicht vorbei, die Dirk Hartwich selbst nennt: man kann die Einflussnahme auf wichtige kommunalpolitische Entscheidungen nicht einigen wenigen engagierten Bürgern überlassen. Und außerdem: die Politik wird es sich nicht  nehmen lassen zu bestimmen, bei welchen Angelegenheiten mehr Bürgerbeteiligung gewünscht oder zugelassen wird. Bei allem guten Willen: man wird das Ziel, die Kommunalpolitik aus ihrem Nischendasein herauszuholen, auf diesem Weg nicht erreichen.

Was sind die Ursachen für die sinkende Wahlbeteiligung?

Auch andere Argumente sprechen dagegen. Unser System der politischen Führung ist als repräsentative Demokratie verfasst. Die Mitglieder in den Parlamenten, vom Wahlvolk dorthin entsandt, ,,repräsentieren“  mit ihrer Zughörigkeit zu unterschiedlichen politischen Parteien und deren unterschiedlichen Programmen den Volkswillen in seinen vielseitigen Ausprägungen – so die Idealvorstellung. In den Parlamenten findet die Auseinandersetzung um die besten Lösungen statt. Am Ende entscheidet die Mehrheit. Im Meinungsstreit um das Für und Wider einer Entscheidung finden sich auch diejenigen Bürger wieder, deren Meinung am Ende unterliegt. Soviel zur Theorie. Aber wie sieht die Praxis aus? Was ist eigentlich, wenn die politischen Parteien – nach dem Grundgesetz die Träger der politischen Willensbildung – in ihren Programmen kaum unterscheidbar sind (sofern sie überhaupt ein Programm mit lokalem Bezug haben)? Was ist, wenn es keine Auseinandersetzungen, keinen offen geführten Meinungsstreit im kommunalen Parlament, dem Rat, gibt? Was ist, wenn Entscheidungen nicht mit einfacher Mehrheit getroffen werden, mag sie noch so knapp sein, sondern mit den Stimmen aller Ratsmitglieder oder fast allen? Das gibt es nicht? Doch. Das gibt es, und ganz besonders auch in Dorsten.

Ratsparteien ohne Programm

Susanne Fraund (Grüne)

Es beginnt mit den Ratsparteien, die erst gar kein Programm für ihre kommunalpolitische Arbeit im Dorstener Rat aufstellen. Man sieht sich die Homepage der FDP Dorsten an und findet kein Wort zu kommunalpolitischen Themen. Bei den Grünen verhält es sich nicht viel anders: auf der Startseite ihres Internetauftritts prangt eine Pressemitteilung von April 2016: ,,5 Jahre Fukushima – 30 Jahre Tschernobyl – Die Katastrophe ist noch lange nicht vorbei!“  Mag sein. Aber was hat das mit Dorsten zu tun? Dahinter in einem Zehnzeiler das kommunalpolitische Programm: Der Grüne Ortsverband Dorsten engagiert sich für eine ökologische und soziale Entwicklung der Gesellschaft. Die Leitziele, für die er sich auf kommunaler Ebene einsetzt, sind: ,,Klima- und Umweltschutz ohne Atom, zukunftsgerichtete Verkehrspolitik für alle VerkehrsteilnehmerInnen, Eintreten für soziale Gerechtigkeit, für Geschlechter- und Generationengerechtigkeit sowie gegen Intoleranz und Ausgrenzung, Stadtentwicklung für eine einladende Innenstadt und lebendige Stadtteile.“  Das war’s. Was heißt das für die politische Arbeit im Rat? Die Grünen werden den Bau eines Atomkraftwerks in Dorsten verhindern? Gut so. Ansonsten: nichts Konkretes. Bei den Linken verhält es sich ähnlich surreal. Auf ihrer Internetseite sticht eine besonders absurde Aktion, die ,,Anfrage zu den möglichen Auswirkungen des Transatlantischen Freihandelsabkommens TTIP auf unsere Stadt Dorsten“, ins Auge. Das ist es, was die Bürger bewegt? Dorsten hat eben keine anderen Probleme.

Auch die großen Ratsparteien zeigen kein kommunalpolitisches Profil

Auf der Homepage des SPD-Stadtverbands Dorsten ist das ,,Kommunalwahlprogramm 2014“ veröffentlicht. Es ist überschrieben mit ,,Zeit, dass sich was dreht“ und nennt, nach Themen gegliedert, die politischen Ziele, für die die Partei sich einsetzen will. Viele der einzelnen Punkte sind mit Erläuterungen versehen, bei anderen finden sich nur Überschriften. Nicht viel anders bei der CDU. Sie ist ,,Regierungspartei“ , sie stellt den Bürgermeister. Auf der Internetseite der CDU findet der Besucher das ,,Kommunalpolitische Aktionsprogramm 2014 – 2020“. Es listet, ebenfalls nach Themen geordnet, eine große Anzahl von Vorhaben und Zielen auf, im Gegensatz zur SPD ohne Erläuterungen.

In beiden Fällen handelt es sich um ins Einzelne gehende Aufzählungen von allem, was die Parteien für notwendig oder wünschenswert halten, Wichtiges und weniger Wichtiges. Es werden Vorhaben und Ziele für alle politisch gestaltbaren Lebensbereiche genannt : für die Jugend, die Eltern, die Sportvereine, die kulturell Tätigen und Interessierten, die Ehrenamtlichen, die Wirtschaft, und weiter für die Bereiche Bildung, Stadtentwicklung, Umwelt, Verkehr und nicht zuletzt Finanzen. Es mag richtig und auch nützlich sein, dass die Parteien ihre Position zu einzelnen Sachthemen bestimmen. Aber diese Kataloge ohne Prioritäten und ohne Gewichtung haben nicht die Qualität eines kommunalpolitischen Programms für die Amtszeit eines Rates. Ein kommunalpolitisches Programm, das diesen Namen verdient, muss den Handlungsbedarf beschreiben, den die jeweilige Partei sieht, und daraus abgeleitet die konkreten Vorhaben enthalten, die vorangetrieben werden sollen. Das zwingt dazu, eine Auswahl zu treffen. In dieser Auswahl werden die Schwerpunkte der Parteien deutlich und im besten Fall ein kommunalpolitischer Masterplan erkennbar. Doch daran fehlt es bei der CDU ebenso wie bei der SPD. Beide Parteien handeln nach der Maxime: keine Festlegungen, alle Optionen offen halten.

Die wichtigen Probleme werden nicht thematisiert

Friedhelm Fragemann (SPD)

Das Ergebnis des kurz gefassten Überblicks lautet: die Ratsparteien, die nach unserer Verfassung die Träger der politischen Willensbildung sind, weisen keine  Programme mit kommunalpolitischem Bezug vor, die sie für die Bürger dieser Stadt unterscheidbar machen. Vor allem die wirklich auf den Nägeln brennenden Probleme werden von keiner der Parteien thematisiert: die Verschuldung der Stadt, der hohe Sanierungsbedarf bei den Schulen, die großen Rückstände bei der Erhaltung und Erneuerung der städtischen Infrastruktur, der Rückgang der Einwohnerzahl und seine Folgen für den Haushalt, die Alterung der Bevölkerung und anderes mehr. In diesen und weiteren Bereichen werden in Zukunft Entscheidungen erzwungen, die zu Zielkonflikten führen. Wie wollen die Parteien diese Zielkonflikte lösen? Hier geht es um originär politische Entscheidungen. Dafür bieten die Parteien keine Antworten an. Für sie hat das den Vorteil, dass sie sich vom Wähler nicht an irgendwelchen Festlegungen messen lassen müssen. Einmal gewählt, sind sie völlig frei und können ohne Rücksicht auf den Wählerwillen nach Belieben schalten und walten.

Alleiniges Unterscheidungsmerkmal: der Baumschutz?

Wie weit der Mangel an Unterscheidbarkeit geht, zeigt eine Episode aus 2014. Kurz vor der Bürgermeisterwahl organisierte die „Dorstener Zeitung“ ein ,,Duell ohne Samthandschuhe“  zwischen den beiden zur Wahl stehenden Kandidaten Michael Baune (SPD) und Tobias Stockhoff (CDU), um in der direkten Konfrontation Unterschiede deutlich zu machen. Das wenig überraschende Fazit lautete: ,,Bei den meisten Themen unterschieden sich die Duellanten nur in Nuancen. Nur beim Baumschutz gab es deutliche Gegensätze.“ Immerhin. Beim Baumschutz. Warum soll der Bürger zur Wahl gehen? Ob er das tut oder nicht: was für eine Rolle spielt das? Auf die wichtigen, die langfristigen Entscheidungen in der Politik hat er null Einfluss, weil sich die Parteien verweigern, eine Position zu beziehen. Der Bürger hat keine Wahl. Damit ist das demokratische Prinzip im Kern ausgehebelt. Demokratie lebt vom Streit um die besten Lösungen. Da wo die Parteien keinen Standpunkt haben, gibt es auch keinen Meinungsstreit. Warum also sollte der Bürger zur Wahl gehen? Weil das die erste Bürgerpflicht ist? Und um den  Parteien einen Blankoscheck auszustellen, mit dem sie während der Amtszeit des Rates machen können, was sie wollen? So hätten es die Politiker gerne. Aber viele Bürger haben verstanden und machen nicht mehr mit.

Schulterschluss der Ratsparteien nimmt den Bürgern jeglichen Einfluss

Ex-BM L. Lütkenhorst (CDU)

Der frühere Bürgermeister Lambert Lütkenhorst (1999 bis 2014) trieb die Entmündigung der Bürger auf die Spitze. Er organisierte bei wichtigen Entscheidungen den „Schulterschluss“ der Ratsparteien. Der bestand darin, dass Entscheidungen mit den Stimmen aller Ratsmitglieder oder fast aller gefasst wurden. Zu diesen Entscheidungen gehörten regelmäßig die hoch defizitären Haushalte der Stadt. Sie sind es, die die Stadt in die Verschuldung trieben und für die heute die Bürger zahlen müssen. Jeder Bürger weiß, dass man sich nicht fortwährend verschulden kann. Jeder Selbständige und jeder Unternehmer weiß das. Aber als Politiker und Ratsmitglieder haben die Beteiligten alle Bedenken abgelegt. Was Private nicht können, das kann eine Gemeinde:  fortwährend Schulden machen. Der letzte Haushalt, über den die Stadt noch selbständig entscheiden konnte, war der für 2011. Er schloss mit einem Minus von 32,3 Millionen Euro. Im Protokoll der Ratssitzung vom 18. Mai 2011 heißt es lapidar: „[…] fasste der Rat bei vier Gegenstimmen (Linke, WIR) folgenden mehrheitlichen Beschluss: Die Haushaltssatzung für das Haushaltsjahr 2011 der Stadt Dorsten […] wird erlassen.“
CDU, SPD, FDP, Grüne – sie alle sahen keinen Grund, den Haushalt abzulehnen oder sich wenigstens der Stimme zu enthalten. 46 der 50 Ratsmitglieder stimmten diesem katastrophalen Haushalt zu, mit einer Mehrheit, wie man sie sonst nur aus der früheren DDR kannte. Da war man sich einig, dass solche Mehrheiten mit Demokratie wenig zu tun haben. Eine Stimme der Vernunft erhob ausgerechnet die Vertreterin der Ratsfraktion Die Linke, Reinhild Reska. Sie lehnte für ihre Partei den Haushalt ab: ,,Selbst auf die Gefahr hin, hier als ,Neinsagerpartei’ dazustehen, sagen wir Nein zu einem Beschluss, der den Bürgerinteressen diametral entgegensteht. […] Stadtverordnete müssen ihren Pflichten nachkommen. Zu diesen Pflichten zählt selbstverständlich auch die Verabschiedung eines Haushalts. Aber welches Gesetz zwingt uns dazu, einem Haushalt zuzustimmen, der nur eine Wahl zwischen ,Pest und Cholera’ ist? Da üben wir lieber zivilen Ungehorsam und möchten ebenso die Kolleginnen und Kollegen der anderen Fraktionen dazu ermuntern, dieses auch zu tun. Stimmen wir alle dagegen.“ Man liest aus diesen Zeilen heraus, dass Mut dazu gehörte, sich gegen die überwältigende Mehrheit des Rates zu stellen, die den Schulterschluss gegen die Interessen der Bürger übte. Die Frage von Frau Reska war ja berechtigt: Wer zwang die Ratsmitglieder besonders von SPD, FDP und Grünen, die nicht der Unterstützung eines CDU-Bürgermeisters verpflichtet waren, dazu,  diesem hochdefizitären und zudem gesetzwidrigen Haushalt zuzustimmen? Sie fanden jedenfalls nichts dabei, zum x-ten Mal einen Schuldenhaushalt im Gleichschritt zu genehmigen.

Ratsmehrheiten von nahe 100 % untergraben das demokratische System

BM Tobias Stockhoff (CDU)

Welche Wahl hatte der Bürger? Keine der etablierten Parteien gab den Bürgern, die den Schuldenkurs nicht billigten, eine Stimme im Rat. Warum sollte er wählen gehen? Auf die wirklich wichtigen Ratsbeschlüsse, die in einem unglaublichen Klima des Konformismus gefasst wurden, hatte er keinen Einfluss. Das Fehlen von Alternativen widersprach grundlegend dem demokratischen Prinzip der Meinungsvielfalt. Der Bürger hatte keine Wahl. Niemand verlangte eine Umkehr. Wofür braucht man noch mal Parteien? Lambert Lütkenhorst feierte den Schulterschluss bei den falschen Entscheidungen als besonders verantwortungsvolles Verhalten der Ratsmitglieder und hinterließ den Bürgern zum Ende seiner Amtszeit Überziehungskredite von mehr als 200 Millionen Euro, die nichts anderes sind als die Kehrseite der alljährlichen Schuldenhaushalte. Für seine ,,Verdienste“  belohnte ihn der Rat mit dem Ehrentitel des ,,Altbürgermeisters“ – bei einer Gegenstimme.
Es gibt andere wichtige Entscheidungen, die nach demselben Muster abliefen, zum Beispiel die Entscheidung zur Ansiedlung eines Einkaufszentrums mit einer Verkaufsfläche von 12.500 Quadratmetern – zusätzlich zum vorhandenen Bestand. Gab es ernst zu nehmende Argumente, diese Ansiedlung abzulehnen? Gab es im Rat eine ergebnisoffene Auseinandersetzung über die Risiken dieser Entscheidung für die Einzelhandelslandschaft in Dorsten? Davon ist nichts bekannt. Und das, obwohl selbst das gekaufte Gutachten des Projektentwicklers auf Risiken aufmerksam machte. Die Entscheidung zugunsten des Einkaufscenters fiel wie immer im Schulterschluss und einstimmig. Dass diese Entscheidung tatsächlich Risiken beinhaltete, ist jetzt, anderthalb Jahre nach der Eröffnung des Neubaus, nicht mehr zu übersehen. Viele Dorstener hatten das Projekt abgelehnt und eine andere Lösung gewünscht. Selbst wenn sie in der Minderheit waren: Eine Partei, die ihr Anliegen im Rat vertrat, gab es nicht. Eine Stimme im politischen Entscheidungsprozess hatten sie nicht. Wozu werden Parteien gebraucht?

Eine Handvoll Personen lenkt die Geschicke der Stadt über Jahrzehnte

Bernd-Josef Schwane (CDU)

Nach fünfzehn Jahren All-Parteien-Kartell während der Ära Lütkenhorst ist Dorsten eine politische Wüste. Nichts regt sich mehr. Dazu trägt auch bei, dass seit mehr als zwei Jahrzehnten immerzu dieselben Personen die Schaltstellen der kommunalen Macht besetzen. 21 der 44 Ratsmitglieder gehörten zum Zeitpunkt der Neuwahl des Rates 2014 diesem mehr als 10 Jahre an, darunter 12 Ratsmitglieder mehr als 15 Jahre. Zu ihnen gehören insbesondere die Fraktionsvorsitzenden: Friedhelm Fragemann (SPD) war Ratsherr seit 30 Jahren; Bernd Schwane (CDU) und Susanne Fraund (Die Grünen) gehörten dem Gremium schon seit 25 Jahren an. Sie sind es, die zusammen mit dem früheren FDP-Chef Thomas Boos und unter Beteiligung des Bürgermeisters Lambert Lütkenhorst das All-Parteien-Kartell organisierten. Sie zogen über viele Jahre die Fäden für den Schulterschluss bei Abstimmungen im Rat. Sie sind die Hauptverantwortlichen dafür, dass Dorsten jetzt an seinen Überziehungskrediten erstickt. Es ist ja durchaus üblich geworden, dass Politiker sich für Fehler entschuldigen. Den Dorstener Verantwortlichen kam das bislang nicht in den Sinn. Keine Entschuldigung, kein Wort des Bedauerns. Es sind dieselben Personen, die heute noch immer die Chefposten in den Ratsfraktionen besetzen und die den Bürgern bei jeder Gelegenheit die Tugend der Sparsamkeit predigen. Der Bock als Gärtner.

Ratsparteien müssen endlich ihrem Auftrag gerecht werden

Reinhild Reska (Die Linke)

Unter diesen Bedingungen ist es erstaunlich, dass noch immer die Hälfte der wahlberechtigten Bürger sich an der letzten Kommunalwahl beteiligte. Viele geben ihre Stimme einer Partei aus alter Anhänglichkeit, weil sie Mitglied sind oder weil sie schon immer so gewählt haben. Da spielt das Parteiprogramm keine Rolle. Aber diese Gattung schrumpft. Die andere Hälfte fragt sich zunehmend, warum sie bei einer Kommunalwahl ihre Stimme abgeben soll. Wofür? Es ist vollkommen gleichgültig, ob sie das tun oder es lassen. Auf die Kommunalpolitik haben sie so oder so keinen Einfluss. Warum wählen gehen, wenn man keine Wahl hat? Die Politiker erkennen zunehmend, dass da etwas falsch läuft. Eine Wahlbeteiligung von unter 50 Prozent hat Züge eines Misstrauensvotums gegen das politische System und kratzt an der Legitimität der Gewählten. Das beunruhigt. Mehr Bürgerbeteiligung löst das Grundproblem aber nicht. Es ist nicht mehr als ein Placebo.
Der Einheitsbrei, den die Ratsparteien dem Dorstener Wahlvolk vorsetzen, ist in unserem Modell der repräsentativen Demokratie der Gau. Damit sich wirklich etwas ändert, müssten die Parteien daran arbeiten, eigenständige politische Profile zu entwickeln und so die Voraussetzungen für ein Funktionieren des demokratischen Systems wiederherstellen. Das zu fordern, ist nicht unbillig. Im Parteiengesetz heißt es in Paragraph 1 ausdrücklich: ,,Die Parteien legen ihre Ziele in politischen Programmen nieder.“  Nichts deutet darauf hin, dass die Ratsparteien dergleichen beabsichtigen. Ohne eine durchgreifende personelle Erneuerung ist ein Aufbruch auch kaum denkbar. Eigenständige politische Positionen zu entwickeln ist anstrengend. Eine eigene Meinung zu vertreten, gegenüber dem Bürger, gegenüber anderen Parteien oder gegenüber einer dominierenden Ratsmehrheit, ist kräftezehrend und macht Politiker angreifbar. Bequemer ist es, alles so zu lassen, wie es ist. Dass die Dorstener Wähler irgendwann einmal der bisherigen Ratsparteien überdrüssig werden, sie von der politischen Bühne fegen und sich ganz neu orientieren, wie in Frankreich geschehen, ist nicht zu erwarten. Deswegen wird sich in Dorsten nichts ändern und die Wahlbeteiligung bei Kommunalwahlen niedrig bleiben. Daran wird auch mehr Bürgerbeteiligung nicht ändern.
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Quelle:  „Dorstener Zeitung“ vom 31. Juli 2017: ,,Der aktive Bürger” – Interview mit Dirk Hartwich. – Fotos: „Dorstener Zeitung“ und Stadt Dorsten
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3 Kommentare zu Kann eine höhere Wahlbeteiligung durch mehr Bürgerbeteiligung erreicht werden? Wohl kaum. Die Ursachen liegen tiefer – Eine Entgegnung auf Dirk Hartwich

  1. M. Köster sagt:

    Da spricht mir mal einer aus dem Herzen!

  2. Bürger sagt:

    Wir haben es doch schon lange verstanden: Die von den Bürgern gewählten Vertreter der Stadt Dorsten interessieren sich nicht für die Bürger. Es geht immer mehr den Bach runter für die Bewohner dieser unsäglichen Stadt. Fragen Sie mal die Ratsherren und -damen; da werden Sie anderes hören. Es wird kaum einer schon am 15. des Monats Sorge haben, wie der zweite Teil des Monats finanziell zu bewältigen ist.
    Die Dorstener haben doch längst resigniert.

  3. Poahlbürger sagt:

    Als zwangseingemeindete Bürgerin dieser Stadt kann ich nur immer wieder feststellen: Ich fühle mich nicht vertreten – von keinem der fest auf dem Rathausstuhl sitzenden Kommunalpolitiker. Viele Bürger erwarten das auch gar nicht mehr. “Die machen ja doch, was sie wollen; kungeln geht immer, Hauptsache, die haben ihren Sitz im Rat durch unsere Stimme. Wir sind doch nur Wahlvieh usw.” Verübeln kann man es keinem, dass er nicht mehr zu diesen Wahlen geht, die mehr oder weniger Scheinwahlen sind.

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