Amal aus Marokko: Mit 15 Jahren zwangsverheiratet, 16-jährig nach Dorsten gebracht, nach 26 üblen Ehejahren die Scheidung und über alles ein Buch geschrieben – beeindruckend

Von Wolf Stegemann

Sie kam aus Marokko und lebt schon mehr als Zweidrittel ihres 46-jährigens Lebens in Dorsten, hat einen sozialen Beruf, zahlt Steuern und für die Renten- und Krankenversicherung ein. Darf, will oder muss sie als Marokkanerin ein Kopftuch tragen? Dazu sagte sie: „Immer wieder ertappe ich mich bei dem Gedanken: Bin ich jetzt Deutsche oder immer noch Marokkanerin? Wenn die Marokkaner sagen, ich sei Deutsche, und die Deutschen, ich sei Ausländerin, dann habe ich genau das gegenteilige Gefühl. Ich gehöre nicht dazu! Weder zu den einen, noch zu den anderen. Entsprechend halte ich es mit dem Kopftuch-Tragen. Da fehlt mir der rote Faden. In meiner Jugend habe ich das Kopftuch ab dem Moment getragen, wo ich meine Tage bekam. Später in Deutschland, nach meiner Hochzeit, habe ich mich angepasst, das Kopftuch weggelassen. Nach Papas Tod habe ich es wieder getragen. Und auf dem Weg nach Mekka sowieso. Eine ,anständige Frau’ verbirgt ihre Haut. Den Hals zeigt sie nicht. Zuletzt habe ich jahrelang Kopftuch getragen. Mehr aus Gewohnheit. Aber wenn ich zur Arbeit gehe, wenn ich mit Eltern, Lehrern und Schülern zu tun habe, lasse ich es in letzter Zeit aus. Draußen, in der Öffentlichkeit fällt mir das aber schwer. Ich kann nicht ,einfach’ etwas weglassen, woran ich mich gewöhnt habe.“
Anlass der 46-jährigen Marokkanerin, sich so mit der eigenen Identität zu befassen, war ein Ausspruch der AfD-Bundespolitikerin Alice Weidel 2018 im Bundestag über die „eingewanderten Goldstücke“, den viele nicht vergessen können. Sie sagte: „Burkas, Kopftuchmädchen und alimentierte Messermänner und sonstige Taugenichtse, werden unseren Wohlstand, das Wirtschaftswachstum und vor allem den Sozialstaat nicht sichern.“

Gerade 16 Jahre alt, kam sie als Ehefrau zu ihrem Mann nach Dorsten

Die Frage, ob Kopftuch oder nicht, dürfte im Leben von Amal, wie sie sich hier nennt, aber nicht so heißt, nicht so bewegend sein wie ihre Vergangenheit als junges verheiratetes Mädchen. Denn Amal wurde nach einer halbjährigen Verlobungszeit mit 15 Jahren in Marokko mit ihrem in Dorsten lebenden zehn Jahre älteren Cousin am 28. November 1991 zwangsverheiratet. Die miteinander verwandten Eltern der beiden machten das vertraglich unter sich aus. Amal, die noch 15-jährige Ehefrau, durfte keine Papiere unterzeichnen, weil sie noch nicht volljährig war. Nach zwei Tagen wurde zuhause geheiratet. Wenige Wochen später wurde das Mädchen Amal 16 Jahre alt und konnte nach Deutschland zu ihrem zehn Jahr älteren „Ehemann“ und den Schwiegereltern geschickt werden. Das war 1992. Das Amtsgericht erkannte nach Vorlage der Papiere die Ehe der 16-Jährigen an, die fortan mit ihrem Mann als Ehefrau in Dorsten-Hervest lebte.

Wegen ihrer Kinder jahrelang Angst vor der Scheidung

Mit 17 Jahren gebar sie ihre erste Tochter, die heute 28 Jahre alt ist. In 26 Ehejahren wurde sie Mutter von vier weiteren Kindern, das Jüngste ist sechs Jahre alt. Ihr Leben ging für sie in einem fremden Land so weiter, wie es sich eine junge Frau sich nicht erträumt. Das Verhältnis der Eheleute zueinander war nicht gut. „Mein Mann schlug mich und ich musste oft auch nachts die Polizei rufen!“ Daher hatte sie sich „heimlich“, wie sie sagt, zuerst über Scheidungsmöglichkeiten informiert. „Doch vor einer Scheidung hatte ich jahrelang wahnsinnige Angst, dass ich meine Kinder verlieren könnte!“ Amal hatte inzwischen einen eigenen Freundeskreis. Freundinnen halfen ihr, die Situation psychisch gut zu überstehen, und unterstützten sie auch, als sich Amal entschied, die Scheidung vorzubereiten. Wieder gegenüber ihrem Mann erstmals geheim. Und dann war es soweit. Sie trennte sich von ihrem Mann. Ihre Kinder und ihre Kollegen hielten zu ihr und in ihrer langjährigen Freundin Petra S.-R., damals Ratsfrau in Dorsten, hatte sie eine große Hilfe. Am 28. November 2017 wurde sie dann geschieden, ein Datum, das ihr bekannt war. Denn an einem 28. November hatte sie in Marokko geheiratet.

Sie empfand ihre Scheidung als „Hochzeit mit der Freiheit“

Heute zurückblickend auf diese Zeit, sagt sie: „Es war ein langer Weg!“ Amal wurde von der Familie verstoßen und ist es noch immer. Das hinderte sie aber nicht, mit ihren Freunden und Kollegen zur Scheidungsfeier einzuladen und zwar „ganz in Weiß!“, in der Hochzeitsfarbe der „Unschuld“. Und vielleicht als symbolisches Zeichen, dass sie die Ehe, in die sie gezwungen wurde, für sich als nicht existent betrachtet. „Für mich war die Scheidung wie eine Hochzeit mit der Freiheit!“ Sie verließ den Kokon und wurde zum Schmetterling.

„Wie ein Schmetterling – Mein Weg aus dem Kokon der Tradition“

Über ihren bisherigen Lebensweg, ihre Höhen und meist Tiefen, schrieb sie ein Buch, das im November 2021 erschien und dem sie den Titel gab: „Wie ein Schmetterling – Mein Weg aus dem Kokon der Tradition“ (Foto: Buchtitel). Weniger lyrische ausgedrückt ist das ihr Weg aus der Zwangsehe mit Schlägen und Ängsten! Auf über 80 Seiten lässt sie den Leser und die Leserinnen teilhaben an ihrem Leben, ihren Gedanken, ihren Hoffnungen und Wünschen. „Oft vergleicht man das Leben mit einem Weg. Mein Weg war alles andere als glatt und geradeaus. Ich frage mich, ob es einfache Lebenswege überhaupt gibt. Darüber habe ich mir Gedanken gemacht.“ Menschen wüchsen immer auch mit Niederlagen auf, wobei sie sich einschließt. „Aber bei jeder Niederlage hat man zwei Möglichkeiten. Entweder leidet das Selbstbewusstsein so, dass man ein ganzes Leben lang daran zu knabbern hat, oder man wächst an seinen (gefühlten) Niederlagen… Ich glaube, das ist das Wichtigste im Leben: Hinfallen, ja, das Passiert. Auch häufiger als einmal. Aber das Aufstehen, das ist wichtig! Einmal öfter aufstehen, als du hingefallen bist.“
Es ist eine außergewöhnliche Biografie, einfach geschrieben, daher verständlich. Der Leser kann den Gedankengängen und Gefühlen der Autorin mit Kopfschütteln, Betroffenheit, Neugier, Kopfschütteln und mitunter auch mit Schmunzeln gut folgen.
Nicht nur ihr Lebensweg ist beeindruckend, sondern auch ihre Stärke, ihr erfrischender Humor und ihre Fähigkeit, die zurückliegenden Dinge klar, aber ohne Verbitterung, zu analysieren. „Ich will mit diesem Buch“, so Amal, nicht nur Mädchen und jungen Frauen Mut und Perspektive geben, die in ähnlicher Situation sind, sondern es soll auch Männern Lektüre sein, die sie lernend lesen können.“

  • Amal: „Wie ein Schmetterling: Mein Weg aus dem Kokon der Traditionen“, zusammengefasst von Arno Becker, Taschenbuch, 13,90, ISBN 979-8-764-72732-5.

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Zur Sache:
Aufschlussreiche Studie zu Zwangsehen in Deutschland

Nach Schätzungen des Familienministeriums sind jährlich 3000 Mädchen in Deutschland von einer Zwangsheirat bedroht. Die Dunkelziffer dürfte aber höher sein. Die Studie „Zwangsverheiratung in Deutschland – Anzahl und Analyse von Beratungsfällen“ der Hamburger Lawaetz-Stiftung, die vom Bundesfamilienministerium in Auftrag gegeben wurde und in Zusammenarbeit mit der Menschenrechtsorganisation Terre des Femmes 2011 entstand, gibt Aufschluss über Geschlecht, Alter, Herkunft, Staatsangehörigkeit und den sozialen Kontext der Betroffenen. Sie zeigt, dass Zwangsehen oft in religiös geprägten Familien vorkommen. Viele Opfer haben die deutsche Staatsangehörigkeit. Ausgewertet wurden die Angaben von bundesweit 830 Beratungseinrichtungen aus dem Jahr 2008. Zusätzlich wurden Untersuchungen u. a.in Schulen und Einrichtungen der Jugendhilfe durchgeführ.
Definition: Eine „Zwangsverheiratung“ liegt laut der Studie dann vor, „wenn mindestens einer der Eheleute durch die Ausübung von Gewalt oder durch die Drohung mit einem empfindlichen Übel zum Eingehen einer formellen oder informellen Ehe gezwungen wird und mit seiner Weigerung kein Gehör findet oder es nicht wagt, sich zu widersetzen.“ Bei Zweifeln an der Zuordnung wurde die Perspektive der Betroffenen zugrunde gelegt. Der Studie zufolge wurden 2008 insgesamt 3443 Personen in den Beratungsstellen registriert. In rund 60 Prozent der Fälle drohte eine Zwangsehe, bei 40 Prozent war sie bereits vollzogen. Terre des Femmes geht jedoch von einer deutlich höheren Dunkelziffer von Betroffenen aus, da sich von 1445 Beratungsstellen lediglich 830 Einrichtungen zurückgemeldet hatten. Außerdem hätten 25 Prozent der Betroffenen in der Falldokumentation angegeben, dass weitere Familienangehörige betroffen seien. Betroffene, die sich nicht an eine Hilfseinrichtung gewandt haben, sind ebenfalls nicht erfasst.
Geschlecht /Alter: Die große Mehrheit der Beratungsfälle waren Frauen und Mädchen, die von Zwangsverheiratung bedroht oder betroffen waren. Die Studie weist auf 7 Prozent betroffene Männer hin (252), es sei aber auch hier „von einem erheblichen Dunkelfeld auszugehen“. Rund 40 Prozent der Frauen und 46 Prozent der Männer waren zum Zeitpunkt der Beratung zwischen 18 und 21 Jahre alt, rund 30 Prozent der Frauen und 22 Prozent der Männer waren noch minderjährig. Die jüngste Hilfesuchende war 9 Jahre alt.
Herkunft / Religion: Etwas mehr als die Hälfte aller Zwangsverheiratungen (52 Prozent) fand im Ausland statt oder wurde dort geplant. Damit verbunden war oft ein „unfreiwilliger Umzug ins Ausland“ bzw. die Befürchtung, zu einem dauerhaften Umzug ins Ausland gezwungen zu werden. Fast alle Beratenen haben einen Migrationshintergrund. Die meisten wurden in Deutschland geboren (32 Prozent), gefolgt von der Türkei (23 Prozent), Serbien, Kosovo oder Montenegro (8 Prozent) und dem Irak (6 Prozent). Bei der Elterngeneration ist die Türkei mit 44 Prozent das häufigste Herkunftsland. Die Eltern der Betroffenen sind zu 83 Prozent Muslime. Fast zwei Drittel der Opfer von Zwangsehen (59,4 Prozent) stammen aus stark religiösen Familien. Knapp die Hälfte (44 Prozent) der Zwangsverheirateten oder davon Bedrohten waren deutsche Staatsbürger. Dies zeigt, dass der Erwerb der Staatsbürgerschaft allein „kein Indikator für eine gelungene Integration“ ist.
Gewalt: Die Studie macht deutlich, dass Zwangsverheiratung oft mit familiärer Gewalt einhergeht. Zwei Drittel der Betroffenen (67 Prozent) erlitten psychische oder körperliche Gewalt. 27 Prozent der Ratsuchenden berichteten von Bedrohungen mit Waffen und/oder Morddrohungen, 11 Prozent sagten aus, sexuelle Gewalt erlebt zu haben.
Nicht überall in Europa strafbar: Europaweite Zahlen von Zwangsverheiratung gibt es  nicht, denn nur in 11 von 27 EU-Staaten gibt es überhaupt einen einschlägigen Straftatbestand. In Deutschland regelt seit 2011 der § 237 StGB die Strafbarkeit von Zwangsehen. Eine Zwangsheirat wird mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft. Auch die Entführung einer Person zu diesem Zweck oder die Zwangsheirat im Ausland sind strafbar. Das Strafmaß zeigt, dass der Gesetzgeber Zwangsverheiratungen nicht für eine Bagatelle hält. Dennoch gibt es seit Erlass des Gesetzes Kritik. Im Jahresbericht 2016 fordert Terre de Femmes erneut „die Schließung der Lücken im Strafrecht: auch religiöse und soziale Zwangsverheiratungen müssen strafbar sein“. Das Gesetz erfasst nur standesamtliche Ehen. Da viele Ehen aber nach religiösen Zeremonien geschlossen werden, fallen diese durch das Raster.

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Anmerkung: Im sehr offenen Gespräch mit Amal wurde vereinbart, in diesem Artikel nicht den wahren Namen von Amal zu nennen, auch keine Namen ihres Ex-Mannes noch die der Familie. So wurde auch kein Foto veröffentlicht. Das Foto ist ein Symbolbild.
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