Partnerstadt Hainichen: Blick ins Brigadebuch der dortigen Kreis- und Stadtbibliothek kurz vor der Wende. Kinder sollten mit sowjetischer Literatur sozialistisch beeinflusst werden

Stadtbibliothek Hainichen heute

Von Wolf Stegemann

25. Februar 2021. – Als im Jahr 1991 der Wulfener Gesamtschullehrer Jens Rohde mit seiner Schulklasse in Dorstens neue Partnerstadt Hainichen in Sachsen besuchte, bekam er von der dortigen Stadtbibliothek ein Buch überreicht, auf dessen Einband „Brigadebuch“ steht. Beim ersten Durchblättern hat man den Eindruck, dass dieses Buch ein von Kindern gefertigtes Album ist. Doch bei näherer Beschäftigung mit den Inhalten erfährt der Leser, dass er ein Buch in Händen hält, das die Geschichte der letzten drei DDR-Jahre auf höchst eigenwillige Art darstellt. Erkennbar wird, wie die DDR-Behörden in diesen letzten Monaten versucht haben, über die volkseigene Kreis- und Stadtbibliothek Hainichen Kinder über sowjetischen Lesestoff propagandistisch für die Sowjetunion zu gewinnen. Daher ist dieses Buch ein wichtiges Dokument. Der Wulfener Gesamtschullehrer hatte dieses Buch fast 30 Jahre lang im Regal. Erst zum 30. Jahrestag der Wiedervereinigung übergab er es im September 2020 dem Wulfener Stadtbibliothekar Christian Gruber, der das Buch nun an Dorstens Partnerstadt Hainichen für deren Archiv zurückgibt. Nimmt der Leser das „Brigadebuch“ des Kollektivs zur Hand, wird er erkennen, wie für den Leser oft unverständlich die Texte der offiziellen politisch-propagandistischen Forderungen formuliert sind und wie das Hainichener Kollektiv darauf reagierte:

„Die Freundschaft zur Sowjetunion zu festigen und zu vertiefen“

Das Kollektiv hat zum 40-jährigen Bestehen der Deutschen Demokratischen Republik für das Jahr 1988, also schon zu einer Zeit, als der Staat DDR auf wackeligen Füßen stand, dieses Brigadebuch angelegt. Dem Kollektiv gehörten bis zu scht Mitarbeiterinnen der Bibliothek an (offiziell „Freundinnen“, Frdn., genannt), welche die bereits stark schwächelnde DDR „bibliothekspolitisch“ vor allem bei Kindern im sozialistischen Geist und freundschaftlicher Bindung zur Sowjetunion stärken sollten. Entsprechend sah das vom Zentralvorstand der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft in Berlin befohlene „Kampfprogramm des Kollektivs der Stadt- und Kreisbibliothek Hainichen ,Johannes Robert Becher’ für 1988“ aus, das am 28. Dezember 1987 von dem „Kollektivleiter”, übrigens eine Frau, an das Hainichener Kollektiv weitergegeben wurde. Darin vorgegeben war die Tätigkeit des Kollektivs unter dem Motto: „Fest verbunden mit dem Land des Roten Oktober – alles für die Verwirklichung der Beschlüsse des XI. Parteitages der SED.“
Alle Kollektivmitglieder wurden verpflichtet dazu beizutragen, „die Beschlüsse des 12. Kongresses unserer Organisation zu verwirklichen und uns auf den 13. Kongress vorzubereiten“. Dazu gehörten u. a. die Planerfüllung „mit hoher Effektivität auf ihrem Arbeitsgebiet zu realisieren“, die erreichten Ergebnisse auszuwerten, die Freundschaft zur Sowjetunion zu festigen und zu vertiefen, bei der Bestandserweiterung der Bibliothek darauf zu achten, einen maximalen Anteil der sowjetischen Literatur zu erwerben. „Vor allem in der Kinderliteratur liegt bei der Bestandserweiterung die Bedeutung auf der sowjetischen Literatur, denn es ist wichtig, bereits die Kinder mit dieser Literatur vertraut zu machen.“
Das Bibliotheks-Kollektiv sollte einen breiten Leserkreis mit den „Mitteln der Kultur das Denken, Fühlen und Handeln der Menschen im Geiste der Werte und Ideale des Sozialismus und der Freundschaft mit der Sowjetunion motivieren“. Als besonderen Jahrestagen sollte 1988 über die Schaufenster der Bibliothek besondere Propaganda betrieben werden: Am 70. Jahrestag der Sowjetarmee in der Woche der Waffenbrüderschaft vom 22. bis 28 Februar, am „Tag der Volksarmee“ am 1. März, am „Tag der nationalen Volksarmee“ am 1. Mai, am 170. Geburtstag von Karl Marx am 5. Mai, am Tag der „Befreiung vom Hitlerfaschismus“ am 8. Mai, am 39. Jahrestag der DDR-Gründung, am Tag des sowjetischen Buches am 7. Oktober, am „Tag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution in Russland“ am 7. November, am 70. Jahrestag der Novemberrevolution in Deutschland am 9. November und am 40. Jahrestag der Gründung der Pionierorganisation „Ernst Thälmann“ am 13. Dezember. Schließlich wurden die Hainichener Bibliothekare angewiesen, ein  „Brigadebuch“ zu führen, dort alles einzutragen, was im Sinne der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft alles veranstaltet wurde und es „von allen Kollektivmitgliedern gestalten zu lassen“.

„Wir gratulieren der Sowjetarmee zu ihrem 70. Jahrestag“

Und es wurde gestaltet. Wie ein Kinderalbum. Gleich auf der nächsten Seite nach den o. g. sozialistisch-bürokratischen Propagandaanweisungen sind aus buntem Papier ausgeschnittene Blumen über das Blatt geklebt mit dem Text: „Der Ehrenname Kollektiv der DSF wurde für das Jahr 1987 erfolgreich verteidigt.“ Eigenartig, denn wie und was sie taten, steht nirgends und das Brigadebuch wurde sowieso erst für das Jahr 1988 angelegt. Doch die weiteren Seiten weisen dann beschriftete und bemalte bunte Seiten auf. Für einige der angewiesenen Gedenktage ist jeweils eine Seite gestaltet, beginnend mit dem Tag der Waffenbrüderschaft am 23. Februar 1988 und dem Text: „Woche der Waffenbrüderschaft, Wir gratulieren der Sowjetarmee zu ihrem 70. Jahrestag“. Aus rotem Papier ist ein eingeklebter Sowjetstern zu sehen. Das war’s! Auf der nächsten Seite wird ebenso dürftig zum „Internationalen Frauentag“ gratuliert. Am 21. März ist ein Sachstandsbericht für das erste Quartal 1988 im Brigadebuch eingeheftet.  Demnach hatte die Bibliothek Hainichen die „Planerfüllungen bereits übererfüllt“. Das betraf den Buchbestand, die Entleihungen und die Anzahl der Benutzer. Die Sowjetliteratur wurde besonders den Kindern „nahegebracht“.
Ein eingeklebter Artikel aus der Zeitung „Freie Presse“ vom 14. April 1988 weist auf den Kurs zum 13. Kongress der Kollektive der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft hin unter der Überschrift „Unsere Traditionen der Freundschaft verbinden“. Zwei Seiten sind Karl Marx gewidmet, dessen 170. Geburtstag am 5. Mai in Hainichen mit einer Buchlesung und einer Eintragung in das Brigadebuch bedacht wurde. Darüber steht im Brigadebuch: „Als Karl Marx starb, trauerten unzählige Menschen in er ganzen Welt um ihn. Seine Ideen aber leben weiter. In der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Ländern sind sie schon Wirklichkeit geworden, auch in unserer Republik.“

„Alle Kollektivmitglieder werden ihr bestmöglichstes tun…“

Mit Zitaten von Maxim Gorki wird auf einer der nächsten Seiten auf dessen 120. Geburtstag hingewiesen. Und dann sieht man einen Zeitungsartikel mit der Überschrift „Die nukleare Abrüstung ist eingeleitet!“ und einem Foto, auf dem der sowjetische Präsident Michail Gorbatschow dem amerikanischen Ronald Reagan die Hand gibt. Darunter der handschriftliche Hinweis der Kollektivleiterin: „Alle Kollektivmitglieder werden ihr bestmöglichstes tun, um den Frieden zu erhalten.“ Es folgen ähnliche Seiten. Am 8. Juni machte das Kollektiv eine „Ausfahrt in die CSSR“, über die auf drei Seiten mit Fotos berichtet wird. Und „mit Elan und Freude“ ging es irgendwann – das Datum fehlt –  zum VIII. Pioniertreffen nach Karl-Marx-Stadt (Chemnitz). Dann wird auf einer Seite dem 10. Jahrestag des Weltraumflugs UdSSR–DDR mit einem Zeitungsartikel gedacht: Schlagzeile: „Der erste Deutsche im All, ein Bürger der DDR!“
Am 14. Oktober wurden die Kollektivmitglieder mit ihren Ehepartnern zu einem „Gewerkschaftsvergnügen“ nach Altmittweida in die Blumenaue eingeladen, wo sie kräftig das Tanzbein schwangen, wie sie in das Buch eintrugen. Im Saal des „Goldenen Löwen“, ein Hotel-Restaurant nah am Rathaus von Hainichen, fand am 19. November 1988 ein Kulturball statt, auf dem eine Jazz-Formation aus Karl-Marx-Stadt spielte, anschließend eine Tanzkapelle aus Mittweida. Gegen 23.30 Uhr endete „dieser beschwingte Abend“.
Zur Jahresabschlussfeier am 12. Dezember 1988 gab es ein kleines Buffet und eine Feuerzangenbowle. Ein Weihnachtsmann brachte den Kollektivmitgliedern und anderen Beteiligten Geschenke. Am Ende des Jahres dokumentiert eine Seite den Erfolg des Jahres 1988, gleich wie im Vorjahr: „Der Ehrenname Kollektiv der DSF wurde für das Jahr erfolgreich verteidigt.“ Dazugeklebt ist ein farbiges Bildchen mit den russischen Matrjoschka-Puppen.

Im Tanzlokal: „Bei Wein und guter Laune verging der Abend wie im Fluge“ 

Das Jahr 1989 beginnt im Brigadebuch erst mit dem 4. Mai. An diesem Tag führte die Stadt- und Kreisbibliothek in Zusammenarbeit mit dem Kulturbund der DDR und dem Volksbuchhandel eine musikalisch-literarische Veranstaltung durch, bei der der DDR-Schriftsteller Günter Saalmann und der Musiker Helmut Sachse auftraten. Als lobenswert wurde von den Kollektiv-Frauen eingetragen: „Das i-Tüpfelchen der Veranstaltung war der Buchverkauf!“ Im Rechenschaftsbericht vom 16. Mai 1989, dem Buch eingeheftet, wird über die  „Verteidigung des Staatstitels Kollektiv der sozialistischen Arbeit“ u. a. geschrieben: „Auf der Grundlage der Bestandsrichtlinien, sowie dem Beschluss des ZK der SED vom 12. Dezember 1984 und den Vorgaben der örtlichen Räte, stellte sich das Kollektiv der SKB Hainichen (Stadt- und Kreisbibliothek) vielfältige Aufgaben. Im Prozess der gesellschaftlichen  Nutzung von Literatur … leisten die Mitarbeiter der Bibliotheken einen bedeutenden Anteil an der Propagierung der Politik der Partei der Arbeiterklasse und des sozialistischen Staates…“
Von den Bibliotheken, so heißt es an anderer Stelle, wird eine „verstärkte Zusammenarbeit mit sozialistischen Kollektiven, Brigaden, FDJ-Kollektiven und Pioniergruppen“ erwartet. Im Mai 1989 waren von den Einwohnern des Kreises Hainichens 17 Prozent Leser einer Bibliothek, das war eine Steigerung zum Vorjahr um 0,1 Prozent. Wenige Tage später, am 20. Mai, fuhr das Kollektiv der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft mit dem Bus nach Augustusburg in einen Weinkeller, die Teilnehmer aßen und tranken und „schwangen „kräftig das Tanzbein“. Ihr Fazit: „Bei Wein und guter Laune verging der Abend wie im Fluge.“ Zwei Seiten später informiert ein kleiner Zeitungsausschnitt mit der Überschrift „Kurz und informativ aus dem Geschehen des Kreises“, dass die Kinderbibliotheken Hainichen und in anderen Städte des Kreises ein Kreuzworträtsel mit dem Titel „Das Land, in dem wir leben“ herausgegebenen haben. Darunter eingeklebt ist eine farbige Karikatur, die einen Jungen und ein Mädchen in der blauen Uniform der Freien Deutschen Jugend in der DDR zeigt. Wie vorausschauend! Denn wenig später gab es weder die FDJ noch ihre blauen Uniformen und Fahnen. Damit enden auch die Eintragungen in diesem Buch wie in diesem Jahr auch die DDR als Staat. Daher fehlt der Eintrag am Jahresende, wie er in der vorangegangenen Jahre im Brigadebuch stand: „Der Ehrenname Kollektiv der DSF wurde für das Jahr erfolgreich verteidigt.“

„Die Parteilitera­tur, früher Pflichtlektüre, ha­ben wir rausgeschmissen!“

Mit dem Aufruf zum Kreuzworträtsel in diesem „Kampfbuch“ für propagandistische Kinderbeeinflussung durch die Stadt- und Kreisbibliothek Hainichen hören die sowieso für ein Buch mit dieser Sinngebung eigenartigen Beiträge sang- und klanglos auf. Es war die aktive Wendezeit zur Wiedervereinigung mit dem „Klassenfeind Bundesrepublik“. Der Wille der DDR-Bürger, die DDR nicht mehr zu wollen, war stärker als die seit langem dahinsiechende DDR mit ihrer Deutsch-Sowjetischen Freundschafts-Gesellschaft. Am 1. Juli 1990 wurde in der DDR die westdeutsche D-Mark eingeführt und die Hainichener wechselten an diesem Tag in ihrer Sparkasse eine Million DM gegen ihr Ostgeld ein. Die einzige Buchhandlung in Hainichen, damals noch im Besitz des Volkes, wurde privatisiert und die Verkaufsstellenleiterin, die dann den Buchladen übernahm, freute sich: „Endlich können wir Simmel und Konsalik anbieten. Die Parteilitera­tur, früher Pflichtlektüre, ha­ben wir rausgeschmissen!“ – Das Brigadebuch der Deutsch-Sowjetischen Gesellschaft dokumentiert, wie überholt und fehlgeleitet alle großspurigen propagandistischen Forderungen an die Bibliothekare und letztlich an die Bevölkerung ins Leere liefen – das zeigen auch die leeren Seiten des Brigadebuchs ab Mitte des Jahres 1990.

Zur Sache:
Was war die Gesellschaft für die Deutsch-Sowjetische Freundschaft?

Bei ihrer Gründung im Jahr 1947 hatte die „Gesellschaft für die Deutsch-Sowjetische Freundschaft“ rund 2.290 Mitglieder. Am Ende der DDR 1990 waren es über sechs Millionen. Über 500 Referenten in 96 Referentenkollektiven vermittelten in Vorträgen Wissenswertes „über das Land Lenins“. Die DSF-Gesellschaft war die zweitgrößte Massenorganisation der DDR. Die Bezirksorganisation Karl-Marx-Stadt, zu der der DSF-Kreis Hainichen gehörte, hatte 20.151 DSF-Kollektive mit insgesamt 715.000 Mitgliedern. Davontrugen 367 Volkstumskollektive diesen „Ehrennamen“. In den Grundeinheiten bestanden 162 „Kabinette der Freundschaft“. Auf den Wahlversammlungen im Bezirk wurden 26.620 Mitglieder in die Vorstände der Abteilungsgruppen und Grundeinheiten sowie 1472 in die Kreisvorstände gewählt. 23.965 Mitglieder leisten „eine unermüdliche Arbeit als DSF-Gruppenleiter“.

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