Blick in die Partnerstadt Hainichen: „Ich bin im Jahrhundert der Tränen geboren…“ – Peter Coryllis, ein Autor von großem Ruf, geboren 1909 in Hainichen, gestorben 1997 im Emsland

Peter Coryllis um 1980; Foto: Heinrich Thoma

Von Wolf Stegemann

Als Dorsten in der Wendezeit 1989 eine Städtepartnerschaft mit der sächsischen Stadt Hainichen eingegangen war, merkte der international renommierte Dichter Peter Coryllis (bürgerlich Walter Auerbach) im emsländischen Walchum am Telefon an: „Ach ja? Schön! Dann macht mal!“ Der Anrufer war der Verfasser dieses Artikels, der Peter Coryllis noch aus seiner Gelsenkirchener Zeit (1975-1980) kannte, als Coryllis, der damals in Dülmen wohnte, Texte für die Gelsenkirchener Zeitschrift für Kunst und Literatur „Standorte“ schrieb, die der Verfasser damals herausgab. Aber was hatte Peter Coryllis mit Hainichen zu tun? Der Lyriker wurde 1909 mit dem bürgerlichen Namen Walter Auerbach in Hainichen geboren. Erst nach seiner Flucht aus der DDR in den Westen nahm Walter Auerbach 1951 das Pseudonym Peter Coryllis an, nicht sein einziges. Er schrieb auch unter A. Biszet, Gundram Bork, Hans Jörg Cordell, Manfred Korinth und Hein Tiller. Der neunzehnfache Literaturpreisträger starb mit 88 Jahren 1997 im Emsland. Nach dem Tod seiner ersten Frau heiratete er 1984 die in Lüdenscheid aufgewachsene Kathleen Thoma, geb. Roos (Thoma-Auerbach), die seinem „Kreis der Freunde“ angehörte.

Mitglied mehrerer literarischer Vereinigungen

Peter Coryllis’ literarisches Werk umfasst Erzählungen, Essays, Aphorismen, Gedichte und Dramen. Daneben gab er eine Reihe von lyrischen Schriftenreihen sowie Gedichtbände befreundeter Autoren und Anthologien heraus. Er war Mitglied der „Interessengemeinschaft deutschsprachiger Autoren“, des Düsseldorfer Kunstvereins „Malkasten“, der „Regensburger Schriftstellergruppe International“, der „Innsbrucker Lyrikfreunde“ und des Innsbrucker „Turmbundes“. Da Dorsten mit Hainichen nach wie vor partnerschaftliche Beziehungen unterhält, dürfte es vielleicht wichtig sein, etwas mehr über die Kinder- und Jugendzeit Peter Coryllis’ in Hainichen zu erfahren, denn an seinen persönlichen Erlebnissen und Erfahrungen lässt sich ein gutes Stück politische Sozialgeschichte unserer Partnerstadt festmachen. Peter Coryllis hat 1991 seine Gedanken zu Papier gebracht, deren erstes Kapitel sich mit „Hainichen – Heimat aus der Ferne“ befasst.

Marktplatz in Hainichen mit Gellert-Denkmal

Im Hinterhaus der Gellertstraße 11 geboren
Der nicht ehelich am 19. Juli 1909 als Paul Walter Gippner im Hinterhaus der Gellertstraße in Hainichen geborene Auerbach wurde fälschlicherweise als Auerbach  ins Geburtsregister eingetragen. Denn seine  Eltern heirateten erst nach seiner Geburt. Er kommentierte seine Geburt später mit „Ich weiß nicht, ob ich jemals geboren wurde.“ Denn: „Um mich kümmerte sich niemand. Ich lag in der Wiege – / einsam und verlassen – und schwieg.“ In einem viel später erschienenen Zeitungsartikel wurde Walter Auerbach alias Peter Coryllis zitiert: „Es war schon eine Schmach, in der alten Kaiserzeit ein uneheliches Kind in die Welt zu setzen, es fehlte nicht an Verachtung und Beschimpfung durch die Mitmenschen.“

Familie Auerbach: Mutter, Vater, Gerhard und Walter (d. i. Peter Coryllis, re.)

Der Vater Friedrich Paul Auerbach war Sozialdemokrat, Vogelsteller und Arbeitersänger; die Mutter Lina Marie Gippner war Maschinennadelrichterin. In einem Artikel der „Hainichener Zeitung“ vom 29. August 1991 beschreibt der zu dieser Zeit sich Peter Coryllis Nennende den Tag des Kapp-Putsches 1920, als sein Vater und einige andere Sozialdemokraten vom Marktplatz in Hainichen weg verhaftet und in die Festung Königstein gebracht wurden, wo sie etwa zwei Wochen einsitzen mussten. Im gleichen Jahr verbrannte seine kleine Kusine Martha bei einem Hausbrand bei lebendigem Leibe. Daher konnte Walter Auerbach Zeit seines Lebens kein Feuer mehr sehen, auch keine Kerzen, nicht mal am Weihnachtsbaum.

Walter Auerbach besuchte die Volksschule Hainichen, dann bis 1927 die Handelslehranstalt in Chemnitz. Für seine Mitschüler blieb er stets das uneheliche Kind aus dem Hinterhaus. Immer wieder fühlte sich der Arbeitersohn Walter Auerbach diskriminiert und arbeitete daher an der Entwicklung seines immer stärker werdenden Egos. Auf seine Defizite und die Reaktionen der Umwelt regierte er mit Intelligenz und seinem Intellekt.

Walter Auerbach wurde im faschistischen Italien verhaftet und verurteilt

Walter Auerbach hielt es in Hainichen nicht mehr aus. In den Neujahrsferien 1927/28 riss er nach Hamburg aus, kam aber nur bis Berlin, wo er die Nächte in Bahnhöfen oder Schrebergärten verbrachte. Hier traf er Peter Huchel (1903-1981), dem es zu dieser Zeit nicht besser ging. Nach einem Monat spürte ihn die Polizei in Thüringen auf und brachte den noch Schulpflichtigen nach Hainichen zurück. Nach der Schule wurde Walter arbeitslos, schrieb ein wenig für die Lokalzeitung und fühlte nun den Drang, die Wirkungsstätten seiner Lieblingsphilosophen in Griechenland aufzusuchen – „um schließlich dort irgendwo zu sterben“. Es gelang ihm, sich die nötigen Visa zu beschaffen und er begab sich von Juni bis Weihnachten 1928 auf eine halbe Welt-Wanderschaft durch Süd- und Südosteuropa und Kleinasien: Istanbul, Bosporus, Anatolien, Albanien, Adria, Venedig, Pompeji! Doch nach Griechenland, von dem er so schwärmte und das der geistige Anlass seiner Reise war, kam er nie. Allerdings ist er ein anderer Mensch geworden, weit weg von Träumen und Schwärmerei. In Rom wurde Walter Auerbach während einer Duce-Rede von der faschistischen Geheimpolizei verhaftet und zu zehn Jahren Zwangsarbeit in den Schwefelhöhlen Siziliens verurteilt. Auf dem Transport dorthin gelang ihm die Flucht in Ketten durch ganz Italien. Weihnachten 1928 war er wieder zuhause in Hainichen. Walter, inzwischen 20 Jahre alt, arbeitete bei einer Konsumgenossenschaft, trat in die SPD und in die Sozialistische Arbeiter-Jugend (SAJ) ein, verlor deshalb seinen Arbeitsplatz mit dem Vorwurf der Urkundenfälschung und Unterschlagung.

Erinnerungen an Hainichen, 1991

In Hainichen gründete er die „Roten Falken“

Walter gründete in Hainichen eine Ortsgruppe der „Roten Falken“, wo er u. a. auch Arbeiterdichter rezitierte, was seltsamerweise wiederum den SPD-Veteranen missfiel. So trat Walter aus der SPD wieder aus. Da er neben seiner Arbeit auch seine Wohnung verloren hatte, fand er Unterschlupf bei einem Anarchistenpaar. Als SPD-Abtrünniger und Lumpensammler erfuhr Walter nun die Abweisung seiner Mitmenschen. Der Versuch, im November 1929 nach Afrika auszuwandern, scheiterte.
Unter dem Verdacht, ein SA-Heim in die Luft gesprengt zu haben, war Walter Anfang 1930 auf der Flucht vor Polizei und SA nach Berlin. Hier freundete er sich mit Ludwig Renn (1889-1979) an, dem Redakteur der „Roten Fahne“ und Vorsitzenden des „Verbandes der proletarisch-revolutionären Schriftsteller“, dem Walter beitrat. Bald aber floh er nach Holland und Belgien. Es folgten hier kürzere Gefängnisaufenthalte, weil er als arbeitsloser Ausländer ein Schiff suchte, um als blinder Passagier auszuwandern. Walter wurde der deutschen Polizei überstellt, die ihn in das Chemnitzer Gefängnis brachte. Dort wartete er seinen oben erwähnten Prozess wegen Unterschlagung und Urkundenfälschung ab. Nach Freispruch und Haftentlassung ging er zurück ins Elternhaus nach Hainichen.

Das "Helsingborgs Dagblatt" interviewt Peter Coryllis während des Schriftsteller-Kongresses 1975berichtet

Begegnungen mit Kurt Tucholsky, Carl von Ossietzky und Walter Mehring

Er gehörte zu den sechs Millionen Arbeitslosen der Weimarer Republik und schrieb für den „Hainichener Anzeiger“ kleinere Texte und Berichte, befasste sich mit den orientalischen Wissenschaften, die ihn faszinierten, fühlte sich angezogen von Latein, Griechisch und Spanisch. Durch eine Einladung des österreichischen Autors Walter von Molo gelangte er nach Berlin, wo er in Kreisen von Wissenschaftlern und Philosophen verkehrte, mit Albert Einstein diskutierte und eigene philosophische Gedanken entwickelte. Wichtig wurden für Walter Auerbach die Begegnungen mit Autoren wie Max Barthel (1893-1975), Erich Kästner (1899-1974), Walter Mehring (1896-1981) und Heinrich Lersch (1889-1936), Ernst Toller (1893-1939). Bei der „Proletarischen Büchergilde“ traf Walter Auerbach Kurt Tucholsky (1890-1935) und Carl von Ossietzky (1889-1938, „Weltbühne“).

Die Arbeiterliteratur in der Weimarer Republik musste sich für den jungen Walter als ein Faszinosum dargestellt haben. Seine Kontakte zu und seine Diskussionen mit den Arbeiterdichtern waren sehr intensiv. Walter Auerbach arbeitete an bedeutenden Zeitungen und Zeitschriften mit, schrieb Glossen und Gedichte und eine Artikelserie über seine Weltenbummelei „Von Hainichen nach Bagdad“ und „Von Bagdad nach Hainichen“ („Hainichener Anzeiger“ und „Tagblatt“, 1930), wobei er witzigerweise gar nicht in Bagdad gewesen war, es dient ihm nur als geschickter journalistischer Aufhänger.

Früher Lyrkband

Kurz vor Kriegsende wegen Wehrkraftzersetzung zum Tode verurteilt

Wenngleich Walter Auerbach Mitglied der DKP war, hielt er sich im Hintergrund. Schon am 10. Januar 1933 wurde die Wohnung der Eltern in Hainichen von SS und SA besetzt. Walter floh, als Pfarrer verkleidet, nach Döbeln, fand, nachdem sich die Situation beruhigt hatte, in Oschatz/Sachsen Arbeit, verlor sie 1935, heiratete ein Jahr später und zog nach Dresden. Er litt an etlichen schweren Krankheiten, an der Malaria wie an einer zunehmenden Erblindung. Er wurde wieder halbwegs geheilt und arbeitete in verschiedenen Werken und Wirtschaftsverbänden. Er stand unter Beobachtung der Gestapo. Walter Auerbach erlebte in Dresden den verheerenden Bombenangriff, ansonsten lebte er seit Januar 1945 mit seiner Familie in Malkwitz (Sachsen). Er wurde wiederholt verhört, erlebte Hausdurchsuchungen und Kurzinhaftierungen. Kurz vor Kriegsende 1945 wurde Walter von der Gestapo verhaftet, bekam ein Verfahren wegen Hochverrats und Wehrkraftzersetzung – er verweigerte den Dienst mit der Waffe – und wurde in der Festung Oschatz (Sachsen) von der SS vor einem Standgericht zum Tode verurteilt. Durch einen Wehrmachtsoffizier entging er der Erschießung durch einen Vollstreckungsaufschub. Im April wurde er durch seine Frau unter Mithilfe polnischer und französischer Kriegsgefangener aus der Haft befreit.

Nach dem Krieg zum Landrat ernannt, danach von den Sowjets verhaftet

Im Mai 1945 ernannten ihn zuerst die Amerikaner, dann die Sowjets zum Bürgermeister von Malkwitz, dann zum Sonderbeauftragten der Roten Armee, schließlich zum Landrat und dann zum Kreiskulturbeauftragten der Sowjets. Aber auch mit dem Nachkriegskommunismus geriet er in Konflikt. Nach einer Verleumdung wurde er von den Sowjets verhaftet, gefoltert und in die Lager Hohenschönhausen und Sachsenhausen verschleppt. Auf dem berüchtigten Todestransport nach Minsk magerte er extrem ab und erkrankte.

Biografie über Coryllis von W. Bortenschläger

Nach der Entlassung 1951 nach Dülmen geflüchtet

Im Januar 1950 erfolgte nach knapp fünfjähriger Internierung die Entlassung aus dem KZ Sachsenhausen und mit einem Umweg gelangte er wieder in sein Elternhaus nach Hainichen, wo er seine Flucht nach Westfalen plante, die ihm schließlich glückte. Die Familie siedelte sich in Dülmen an. Erst jetzt, im Jahre 1951, begann für Walter Auerbach die eigentliche Nachkriegszeit und mit ihr schwere innere Kämpfe um Identitätsfindung und Anerkennung als Autor. Er legte sich das Pseudonym  Peter Coryllis zu, welches sich zum Markenzeichen PC konzentrierte. In den folgenden Jahrzehnten verarbeitete Peter Coryllis sein Leben, seine Ansichten und Einsichten, seine Begegnungen in seinen Texten. Er wurde bekannt, dann berühmt. Seinen Widerspruchsgeist hatte er trotz schwerer Krankheiten nie aufgegeben. So legte er sich mit den Schriftstellern der „Gruppe 47“ an, mit Böll und anderen im Schriftsteller-Verband an. Er scheute sich auch nicht, in Korrespondenzen Großverlage zu kritisieren, die ihn lange Zeit schlichtweg nicht zur Kenntnis nehmen wollten. Sein Gedicht „Suhrkamp in Frankfurt weiß von nichts“ erregte Aufsehen, in dem es u. a. heißt:

Seit endlosen Jahren schreibe ich / dieses und jenes und manchmal auch solches / ihr aber / eine der Buchfabriken / habt noch keine meiner Schriften gelesen / geschweige als Buch herausgebracht / ihr tut so als stehe ich nicht auf der Rampe / um irgendwann einmal verladen zu werden / für euch bin ich einfach nicht existent / dabei hab ich schon zigzig Titel gebaut / (…) / trotzdem – ihr ignoriert das alles / und behandelt mich einfach wie ungeboren.

Peter Coryllis, der 1909 in Hainichen in Sachen geboren wurde, lebte bis zu seinem Tode 1997 in Walchum, einem kleinen Dorf im Emsland. Er hinterließ ein reichhaltiges Werk, in dem sich sein nicht minder reichhaltiges Leben widerspiegelt. Die Urne wurde seinem Wunsch gemäß von seiner Frau Kathleen Thoma-Auerbach auf See beigesetzt. Ihr widmete er seine letzten Gedanken.

Irgendwann                                                                                                                                  wird sie läuten                                                                                                                                  die Glocke                                                                                                                                         der letzten Minute.

 Wir wissen es Beide                                                                                                                      und nichts erschreckendes                                                                                                                 ist dabei.

Alles ist klar                                                                                                                                      zwischen  uns,                                                                                                                             auch,                                                                                                                                                   dass ich kein Grab                                                                                                                           haben werde.

 Auf See                                                                                                                                             wirst Du meine Asche bestatten.                                                                                               Draußen                                                                                                                                             auf hoher See …

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Quellen: Gespräch mit Kathleen Thoma-Auerbach 2013 (mit anschließender Autorisierung des Textes). – Walter Auerbach/Peter Coryllis „Hainichen – Heimat aus der Ferne. Gedanken, Bekenntnisse und Erinnern in freien Versen, Aphorismen und Kurzprosa, Goldschmidt Werlte 1991. – Wilhelm Bortenschlager „Zwischen Stille und Lärm – der Mensch. Leben und Werk des streitbaren Humanisten Peter Coryllis“, Bläsche (Österreich) 1979. – Ders. „Wo die Ems vorüberfließt … Abendstunden eines reichen Lebens. Der späte Weg des Peter Coryllis“, Goldschmidt Werlte 1989.
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Ein Kommentar zu Blick in die Partnerstadt Hainichen: „Ich bin im Jahrhundert der Tränen geboren…“ – Peter Coryllis, ein Autor von großem Ruf, geboren 1909 in Hainichen, gestorben 1997 im Emsland

  1. Christine N. sagt:

    Dem Verfasser dieses Beitrags möchte ich ein großes Lob aussprechen. Sehr gut geschrieben, interessante nicht bekannte Details aus dem Leben eines leider fast in Vergessenheit geratenen und in Dorsten quasi unbekannten Autors aus der Dorstener Partnerstadt. Auf jeden Fall werde ich mir Literatur des Dichters (und über ihn) besorgen.
    Die Mischung aus Politik, Kultur, Wirtschaft, Gesellschaft und Geschichte macht den Reiz und Wert dieser immer aktuellen Seite aus und sollte unbedingt weiterhin gehegt und gepflegt werden.

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