Dorstens „patriotische Straßennamen” (6): Die Luisenstraße – Eine „preußische Madonna“ und schon zu Lebzeiten „Königin der Herzen”

Luisenstraße in Holsterhausen; Foto: Wolf Stegemann

Von Wolf Stegemann

Vorbemerkung. 29. Dezember 2017. – In Dorsten gibt es heute noch einige Straßen, die nach preußischen Prinzessinnen und Königinnen, aber auch nach ruhmbekleckerten Feldmarschällen benannt sind. – Im damaligen wilhelminischen Kaiserreich liebdienerten sich Bürgermeister und Magistraten durch Straßenbenennungen den hohen Herrschaften an. So entstanden in Holsterhausen die 1911 nach dem Bruder des Kaisers Wilhelm II. benannte „Heinrichstraße“, ebenso bekam der Preußen-Feldherr von Roon eine Straße; Goeben, Wrangel, Blücher und Bismarck auch; zudem Damen des Königs- und Kaiserhauses. In unserer heutigen Folge widmen wir uns einer dieser Damen, deren Name auf dem Schild „Luisenstraße“ zu lesen ist. Neben Musiker-, Künstler-, Tier-, Pflanzen-, Heiligen- und anderen Straßen sind dies die „patriotischen Straßen“. Sie sind historische Denkmäler. Und wie es mit Denkmälern so ist: sie werden abgerissen, wenn man die Geehrten nicht mehr ehren will, oder sie bleiben. Die 1933 bis 1945 nach Hitler und anderen NS-Größen benannten Plätze und Straßen sind wieder verschwunden. In Dorsten heißt beispielsweise das Essener Tor wieder so, nachdem es vorher „Adolf-Hitler-Platz“ geheißen hatte. Und die „Adolf-Hitler-Straße“ in Holsterhausen ist nach 1945 dem heiligen Antonius gewidmet worden.

Königin Luise gab auch den Ton in der Mode an

Luise von Mecklenburg-Strelitz lebte von 1776 bis 1810 und ist durch ihren Versuch bekannt geworden, 1806 in Tilsit bei dem siegreichen Napoleon mildere Friedensbedingungen zu erwirken. Sie war die Gemahlin des Preußenkönigs Friedrich Wilhelm III., den sie im Alter von 17 Jahren heiratete. Sie starb jung. An ihrem Totenbett, so zeigt es eine Zeichnung, knien zwei Knaben, die zwei künftigen Könige, Friedrich Wilhelm IV. und Wilhelm I., der von den deutschen Fürsten 1871 nach dem Sieg über Frankreich in Versailles zum deutschen Kaiser ausgerufen wurde.

Ikone einer neuen Bürgerlichkeit

Luise, die ihren hochadeligen Lebenskreis nie sprengte, wurde schon zu Lebzeiten die Ikone einer neuen Bürgerlichkeit. Die Themen damals und heute sind die gleichen. Luise und Friedrich Wilhelm waren sich treu. Der König, der die mündliche Konversation gern auf militärische Formeln verknappte, schrieb seiner Frau poetisch-zärtliche Briefe. Aus dem Hof verschwanden die Schwärme der Mätressen, neue Empfindsamkeit hielt Einzug. Romantische Dichter wie Novalis oder August Wilhelm Schlegel projizierten in das Königspaar die Sehnsucht nach Überwindung aller Standesschranken. Auch zwischen Eltern und Kindern bahnten sich neue Verhältnisse an. Luise selbst blieb die Enge aristokratischer Abrichtung erspart. Sie wuchs am Hof in Darmstadt bei ihrer Großmutter auf unter der Obhut einer Gouvernante, die den Idealen Rousseaus anhing, und war als Mädchen wohl eine ziemlich „wilde Hummel“, so die Gouvernante.

Erwartungen und Hoffnungen des Volkes wurden enttäuscht

Schnelldampfer “Königin Luise”

In Berlin begehrte sie immer wieder dagegen auf, wenn ihr, höfischen Gepflogenheiten entsprechend, die Kinder entzogen werden sollten. Die größten Erwartungen der Bürger aber richteten sich darauf, dass die „Königin der Herzen“ im Verhältnis von Dynastie und Volk etwas Grundlegendes ändern könnte, damit die Ideale der Französischen Revolution ohne Terror und Blut in einem Volkskönigtum Wirklichkeit würden. Sie wurden, wie man weiß, enttäuscht. Friedrich Wilhelm III. wies die „demokratische“ Definition seines Königtums, wie sie etwa Novalis in einer Denkschrift formuliert, ebenso zurück wie sein Sohn vierzig Jahre später die Kaiserkrone des Paulskirchenparlaments. So reduzierte sich die politische Seite des Luisenkults dann doch auf die Königsgattin, die vom französischen Imperator in Tilsit gedemütigt wurde, wofür Feldmarschall Blücher 1814/15 und Luises Sohn Wilhelm 1871 in Paris Rache nehmen sollten.

Luise war und ist die preußische Sissi

Filmplakat 1957

Wolfgang Liebeneiner knüpfte 1957 mit Ruth Leuwerik in der Hauptrolle im Kino noch einmal an den Luisenkult an. Der Film fiel durch. Preußen war tot. Monarchische Sehnsüchte, so vorhanden, richteten sich im Wirtschaftswunderdeutschland auf Österreichs Sissi. Als man in den Achtzigerjahren in West und Ost Preußen wieder vorsichtig in Augenschein nahm, geschah das ausdrücklich „ohne Legende“. Für Luise interessierte man sich nicht. Doch das änderte sich wieder. Vor allem aus Anlass ihres 200-jährigen Todestags 2010. Dokumentar- und Spielfilme über sie und noch weit mehr historische Sachbücher und Romane sind erschienen. Sie war eine preußische Sissi. Und wer die Filme gesehen und die Bücher gelesen hat, der stellte erstaunt fest, dass immer wieder Neues über sie herausgefunden wurde, worüber es zu berichten gab (und gibt).

Mythos Luise und die Wirklichkeit – Wegbereiterin der deutschen Nation

Briefmarke erinnert an Luise

Die Luise-Legende bot und bietet Raum für Projektionen. Immer wieder sollte sie auch in den kommenden Generationen in Erscheinung treten, in unterschiedlicher Gestalt: Mal als preußische Venus, als Muse oder Top-Model, mal als Amazone, Übermutter oder Märtyrerin und nicht zuletzt als Wegbereiterin der deutschen Nation. Dabei sind Mythos und Wirklichkeit nach zwei Jahrhunderten der Verklärung kaum zu unterscheiden. Mit der Vereinigung Deutschlands hat das Interesse wieder zugenommen, zu erfahren, wer sie wirklich war. Über politische und militärische Macht verfügte die Königin nicht, gewann aber Einfluss auf Männer, die zu entscheiden hatten, etwa ihren königlichen Gemahl Friedrich Wilhelm III. Die Monarchin bewies Stärke, als dem Monarchen in entscheidenden Momenten die Entschlusskraft fehlte. Sie und nicht er trat dem mächtigsten Kriegsherrn ihrer Zeit entgegen, nahm es mit Napoleon Bonaparte auf, versuchte ihm „mit den Waffen einer Frau“ Paroli zu bieten. Luise und nicht ihr Ehemann hatte das Format, als Symbolfigur in Erinnerung zu bleiben. Wie konnte aus der lieblichen Mecklenburger Prinzessin die „preußische Madonna“ werden? Warum überstrahlte sie König Friedrich Wilhelm III. in fast jeder Hinsicht? Und was machte sie zur Ikone für nachfolgende Generationen?

Ohne Zwang „die Liebe der Untertanen“ gewinnen

Medaille 1935

Ihre Vermählung mit dem preußischen Thronfolger Friedrich Wilhelm III. 1793 galt als Liebeshochzeit, sie brach mit der Tradition bloßer Zweck-Heiratspolitik, die in vielen Dynastien selbstverständlich war. Bislang galt Preußen als Männerstaat, die Kronprinzessin verlieh der Hohenzollern-Monarchie eine weibliche Note. „Ohne Zwang“ wollte sie „die Liebe der Untertanen“ gewinnen. Schon zu Lebzeiten wurde Luise von Preußen wie eine Heilige verehrt. Jung, schön, anmutig und eher ungezwungen, verhalf sie dem preußischen Königshaus zu großer Beliebtheit. Ihren Charme und ihre Klugheit stellte sie ganz in den Dienst ihres Mannes König Friedrich Wilhelm III., ihres Landes und ihrer Familie. Als mehrfache Mutter hatte sie eigentlich nicht vor, politisch aktiv zu werden. Doch Napoleons Eroberungszüge forderten sie heraus: „Gewalt gegen Gewalt, das ist meiner Meinung nach das einzige.“ Ihre Gegner beschimpften sie folglich als Kriegstreiberin. Für ihre Verehrer wurde Luise zur Symbolfigur der erwachenden deutschen Nation verklärt, gar zur germanischen Kriegerin im Kampf gegen Frankreich und für die Einheit der Deutschen. Auch in der Mode gab sie den Ton an.

Die Hochadelige war für viele das bürgerliche Vorbild

In mehr als 16 Ehejahren war sie zehn Mal schwanger und galt als „Landesmutter“. Bei aller Bürgernähe und Offenheit blieb sie stets standesbewusst. Der Forderung nach gesellschaftlicher Gleichheit im Sinne der Französischen Revolution konnte sie nichts abgewinnen. Aus Überzeugung verkörperte sie die Rolle der guten Ehefrau und Mutter, wurde auch für bürgerliche Familien zum Vorbild. Und doch bot sie dem mächtigsten Herrscher ihrer Zeit Napoleon die Stirn, nannte ihn „Ungeheuer“, während ihr Mann militärische Neutralität wahren wollte. Preußen unterlag in der vernichtenden Schlacht bei Jena und Auerstedt 1806. Napoleon zog als Sieger in Berlin ein. Friedrich Wilhelm III. und Luise flohen getrennt in den Osten des Landes. Luise gelangte mit den Kindern nach Königsberg, wo sie an „Nervenfieber“ erkrankte, wie man damals den Typhus nannte. Napoleon besiegte auch die Russen und die Reste der preußischen Armee. Preußen erwartete nun einen rücksichtslosen Friedensvertrag, deshalb fuhr Luise nach Tilsit, um Napoleon zu treffen und zu beschwichtigen.

Die Begegnung Konigin Luises mit dem “Ungeheuer” Napoleon

Die Königin sollte den Sieger Napoleon in Tilsit sanft stimmen

Die legendäre Begegnung fand am 6. Juli 1807 in Tilsit statt. Luise trug ein silberdurchwirktes weißes Kreppkleid und wirkte trotz ängstlichster Spannung auf Augenzeugen schöner als je zuvor. Der leitende Minister hatte ihr geraten, liebenswürdig zu sein, vor allem als Ehefrau und Mutter zu sprechen und keinesfalls ein betont politisches Gespräch zu führen. Die Königin erlebte eine Überraschung. Statt des gefürchteten Ungeheuers stand ihr mit Napoleon ein beeindruckender, offensichtlich hochintelligenter, angenehm plaudernder Mann gegenüber. Luise bat um maßvolles Vorgehen bei den Friedensbedingungen, Napoleon blieb in seinen Antworten unbestimmt, machte der Königin jedoch Komplimente wegen ihrer Garderobe. Als er fragte, wie die Preußen so unvorsichtig sein konnten, ihn anzugreifen, gab Luise die oft zitierte Antwort: „Der Ruhm Friedrichs des Großen hat uns über unsere Mittel getäuscht.“ Später äußerte sie sich positiv über ihre persönlichen Eindrücke bei der Unterredung. Und da auch der Kaiser sich beeindruckt zeigte, endete hier jedenfalls die Zeit gegenseitiger Beleidigungen.

Ihre Grabstätte wurde zum Wallfahrtsort der Luisen-Verehrung

Grabmonument im Schlosspark Charlottenburg

Konkrete Zugeständnisse erreichte die Königin allerdings nicht. Über das etwa einstündige Gespräch unter vier Augen berichtete Kaiser Napoleon seiner Frau Josephine nach Paris: „Die Königin von Preußen ist wirklich bezaubernd, sie ist voller Koketterie zu mir. Aber sei ja nicht eifersüchtig, ich bin eine Wachsleinwand, an der alles nur abgleiten kann. Es käme mir teuer zu stehen, den Galanten zu spielen.“ Tatsächlich waren die Bedingungen des Friedens von Tilsit am 9. Juli 1807 für Preußen überaus hart. Der Staat verlor die Hälfte seines Territoriums und seiner Bevölkerung. Immerhin blieb Preußen als Staat erhalten – dank der Fürsprache des Zaren, dem sehr an einem Pufferstaat zwischen seinem Reich und Napoleon gelegen war. Das Königspaar blieb in Königsberg. Von dort regierte Friedrich Wilhelm III. sein klein gewordenes Land. 1809 kehrte die königliche Familie in die Hauptstadt zurück. Preußen war praktisch bankrott. Luise reiste in ihr elterliches Neustrelitz. Sie erkrankte Mitte 1810. Ihr Ehemann, der König, reiste zu ihr. Vier Stunden nach seinem Eintreffen starb Königin Luise an Lungenentzündung. Sie wurde nach Berlin überführt und vorerst im Berliner Dom beigesetzt, später in einem Mausoleum im Park von Schloss Charlottenburg, das sich zu einem nationalen Wallfahrtsort, zur wichtigsten Kultstätte der Luisen-Verehrung entwickelte.

Siehe auch: Patriotische Straße (1): Düppelstraße
Siehe auch: Patriotische Straße (2): Roonstraße
Siehe auch: Patriotische Straße (3): Steinmetzstraße
Siehe auch: Patriotische Straße (4): Friedrich- und Victoriastraße
Siehe auch: Patriotische Straße (5): Cecilienstraße

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Quellen: Hanne Bahra: „Königin Luise. Von der Provinzprinzessin zum preußischen Mythos“, Weltbild o. J. – Heinz Ohff: „Ein Stern in Wetterwolken. Königin Luise von Ptreußen“, Piper 1989. – ZEIT vom 15. Juli 2010: „Luise von Preußen: Keine von uns“. – Wikipedia (Aufruf 2017).

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