1. August 1914: Ausbruch des Ersten Weltkriegs – Schulleiter animierte seine Schüler dazu, als „Helden des Lichts“ in den Krieg zu ziehen. 352 Dorstener fielen an den Fronten

Titelseite der „Dorstener Volkszeitung“ vom 1. August 1914 mit der Meldung des Kriegsausbruchs

Von Wolf Stegemann

Am Tag der Mobilmachung (2. August  1914) standen in der St. Agathakirche und der Franziskanerkirche vor den Beichtstühlen Schlangen von Wehrpflichtigen und Kriegsfreiwilligen und in der ganzen Stadt brach großer Jubel aus. Scharen von Menschen zogen durch die Stadt, um an der „Germania“ Vaterlandslieder zu singen. Die Gaststätten waren überfüllt. Der Pfarrer von St. Agatha schrieb am 28. Juli 1914 in seine Chronik: „Große Aufregung in der ganzen Pfarrgemeinde. Man befürchtet, dass Deutschland mit in den Krieg ziehen muss; ja man sagt, das Bündnis mit Österreich verlange es und es sei eine Feigheit, wenn Deutschland seinen Bundesgenossen in Stich lasse.“

Am 1. August lautet die Eintragung:

„Deutschland erklärt den Krieg an Russland und Frankreich. Große Begeisterung !! Auf dem Marktplatz und an der ,Germania‘ am Essener Tor werden patriotische Reden gehalten. Durch die Straßen ziehen Männer und Jünglinge, patriotische Lieder singend und Hoch und Hurras ausbringend auf das deutsche Vaterland. Alle sind fest davon überzeugt, dass Deutschland einer gerechten Sache dient.“

Kriegsgefangene am Südwall

Dorsten im Belagerungszustand

Die Vorstellung, den Krieg in wenigen Wochen mit einem Sieg beendet zu haben, beflügelte auch die Dorstener. In der Kriegslust steckte der Geist der Befreiungskriege von 1813. Nach Ausrufung des Kriegszustands reklamierte der Kommandierende General des VII. Armeekorps in Wesel die vollziehende Gewalt für sich und rief den Belagerungszustand aus. Die Dorstener Stadtbehörden und die Gemeindeverwaltungen blieben zwar im Amt, hatten aber die Befehle des Generals zu befolgen. Fremde hatten die Stadt innerhalb von 24 Stunden zu verlassen. Dorsten hatte für die Bereitstellung von Pferden und Wagen zu sorgen, Telegrafenämter und -leitungen sowie die Eisenbahnlinien und die Lippebrücke zu schützen. Im Grenzgebiet durfte nicht mehr telefoniert werden. Innerhalb des Gebietes zwischen der holländischen Grenze und der Eisenbahnlinie Rheine-Dorsten und entlang am Lauf der Lippe bis zur Rheinmündung wurde jeder Kraftfahrzeugverkehr verboten, Brieftauben mussten gemeldet werden. Am 21. August war im Hotel „Altenburg“ Musterung der Wehrpflichtigen ab Jahrgang 1884.

Propaganda für den Krieg

Von den Lehrern in ihrer „vaterländischen und heiligen Pflicht“ animiert, gingen einige von ihnen und Schüler des Gymnasium Petrinum als „Krieger im Heer des Lichts“ in den ersten Tagen der Mobilmachung freiwillig zu den Soldaten. Darüber schrieb Schulleiter Dr. Josef Wiedenhöfer im Jahresbericht für 1914:

„[…] bis sich endlich die ganze Oberprima – 23 zumeist kräftige, gesunde Jünglinge – für die Notreifeprüfung gemeldet hatten [und somit an die Front] … sogar die Obertertia entsandte zwei Kavalleristen! Das halbe Hundert sollte voll werden.“

Und an anderer Stelle:

 „Hier wurde ein ernster Abschied vor ernster Trennung gefeiert. ,Es braust ein Ruf wie Donnerhall’ und ,Deutschland, Deutschland über alles’. Wie klangen diese Lieder so ganz anders als sonst! Und als nach einer Ansprache der ,Gute Kamerad’ gesungen wurde, da rannen die Tränen über manche Wange. Ein letztes Abschiedswort wurde von unseren Freiwilligen wie aus einem Munde mit einem tiefgefühlten ,Auf Wiedersehen!“ zurückgegeben.“

Vier Lehrer und 50 Schüler im Alter zwischen 17 und 22 Jahren zogen in den Krieg, einer von ihnen, Wilhelm Timmermann aus Gahlen, war erst 15 Jahre alt. Von ihnen fielen noch im gleichen Jahr fünf Schüler den propagierten „Heldentod“.

Todesanzeige in der "Dorstener Volkszeitung"

352 Dorstener Männer fielen an den Fronten

Der erste Dorstener Soldat Karl Kottendorf fiel schon am 7. August bei einem Gefecht mit französischen Grenzbeamten im Elsass. Ihm folgten bis Kriegsende 352 weitere Dorstener. Der Dorstener Wilhelm Pepperhoff von der Hafenstraße auf der Hardt hat wohl in weitester Entfernung von seiner Heimat gekämpft: in der deutschen Kolonie Kiautschou an der Küste Chinas. Er war zu Anfang des Krieges Bootsmann in der 5. Kompanie der Matrosenartillerie-Abteilung Kiautschou der Kaiserlichen Kriegsmarine. Schon im November 1914 wurde er gefangen genommen und in das Lager Komamoto (Gef.-Nr. 3596) gebracht. Mitte 1915 war er im Lager Kurume, 1918 im Lager Nagoya. Im Dezember 1919 wurde Wilhelm Pepperhoff entlassen

Die Kriegsjahre waren geprägt von Hunger und Not (siehe „Steckrübenwinter“) und danach entstanden die Unruhen der Spartakisten 1919, in denen Arbeiter- und Soldatenräte Ordnung in die Flut der von den Fronten nach Hause zurückströmenden Soldaten zu bringen versuchten. Am Ende des Krieges musste Kaiser Wilhelm II. abdanken und ins Exil nach Holland gehen. Pfarrer Heming von St. Agatha hielt in der Chronik fest:

„Dadurch hat er bei den meisten Untertanen die Sympathien eingebüßt. Im folgenden Jahr versuchten einige noch Kaisers Geburtstag zu feiern am 27. Januar, so z. B. wurden im hiesigen Ursulinenkloster noch vaterländische Lieder, die bei dieser Gelegenheit üblich waren, wie ,Heil Dir im Siegerkranz‘ hinter verschlossenen Türen gesungen.“

Und unter dem 9. November 1918 steht:

„Der große Weltkrieg ist beendet, aber die Revolution ist ausgebrochen. Große Unruhen in der Stadt. Überall Ansammlungen auf den Straßen. Abends auf dem Marktplatz Volksversammlung, Redner stellen sich auf ein schnell errichtetes Podium und griffen in ihren Reden die Bürgerlichen an…“

Finanziert wurde der Krieg zu 60 Prozent durch Kriegsanleihen, die Bürger zeichneten. Insgesamt wurden im Reich zwischen 1914 und 1918  neun  Krieganleihen aufgelegt. Die Reichsbank erwirtschaftete mit den Einnahmen einen Gewinn von 98 Milliarden Mark. Nach dem verlorenen Krieg mussten die Anleihen zurückgezahlt werden. Erst im Jahre 2010 zahlte die Bundesregierung die letzte Millionen hohe Tranche dieser Kriegsanleihen an Banken zurück. Im Dezember 1916 schrieb Dorstens Pfarrer Ludwig Heming in seine Agatha-Chronik:

„In diesem Jahr wurde schon die 5. Kriegsanleihe ausgeschrieben. Bei allen Kriegsanleihen hat die Kirche viel gezeichnet. Persönlich hatte ich kein Vertrauen zu dieser Sache. Ich habe nie gezeichnet; auch konnte ich es nicht über mich bringen, die Gläubigen von der Kanzel aus dafür zu begeistern.“

In einem alten Stadtmauerturm am Westwall richtete die Stadt 1925 ein Ehrenmal für die gefallenen Dorstener ein, in Holsterhausen stand bis 1955 ein Ehrenmal an der alten Dorfkirche, in Wulfen steht ein solches heute noch (Kleiner Ring), in Lembeck an der Kirche, in Altendorf am Ortseingang.

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Quellen: Schulbericht Gymnasium Petrinum 1915 (für 1914). – Chronik von St. Agatha 1913-1951 (unveröffentlicht). – Wolf Stegemann in RN vom 2. August 1984. – J. Schmids Internetportal (tsingtau.info). – Wolf Stegemann „Holsterhausen im Umbruch 1900-1933. Kaisers Krieg und Weimars Not“, 2007.

 

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