Der Weg nach Auschwitz, Synonym für Vernichtung und Ermordung jüdischer Menschen, begann auch in Dorsten – Wege zurück gab es nach1945 kaum; wenn, dann nur besuchsweise

Ernst Metzger zwischen Dirk Hartwich (r.) und Wolf Stegemann

Erinnerungen von Wolf Stegemann

2. Februar 2020. – Am 27. Januar 2020 jährte sich zum 75. Mal die Befreiung des größten Vernichtungslagers des nationalsozialistischen Deutschlands. Über eine Million Menschen verloren in Auschwitz auf grausame Weise ihre Würde und ihr Leben. Seit 1996 ist der 27. Januar offizieller deutscher Gedenktag, 2005 erklärten ihn die Vereinten Nationen zum „Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust“. Doch in diesem Jahr waren Politik und vor allem auch die Medien besonders rührig. Denn es gibt nur noch wenige Menschen, die Auschwitz überlebt haben und noch leben. Im Kreis Recklinghausen ist es Rolf Abrahamsohn, der als überlebender Jude seine persönlichen Erinnerungen all die Jahrzehnte wach gehalten und an die folgenden Generationen weitergegeben hat. Dafür hat er vor Wochen den Verdienstorden des Landes Nordrhein-Westfalen erhalten. Auch Dorstener Bürger jüdischen Glaubens wurden in Auschwitz und in anderen Todeslagern ermordet. Das waren Angehörige der Familien Bendix, Cohn, Joseph, Lebenstein, Metzger, Minkel, Neuberg, Perlstein, Reifeisen, Schöndorf. Es gab auch Juden, die Auschwitz überlebt haben. Dazu gehörte Ernst Metzger, geboren 1912, ein Dorstener Jude, der nach seiner Befreiung in die USA auswanderte und vor wenigen Jahren verstarb.

1942 vertrieben – 40 Jahre später für 14 Tage besuchsweise wieder in Dorsten

Nur noch einmal besuchte er seine Heimatstadt Dorsten – 1983. Ein Jahr zuvor kündigte er an, dass er erstmals wieder seine Heimatstadt besuchen wolle, aus der er 1942 deportiert worden war. Das Foto zeigt ihn in Dorsten vor 1942 (l.) und 1983 am Grab seines Vaters 1983 auf dem jüdischen Friedhof. Er bat um einen finanziellen Zuschuss zur Reise. Die Medien berichteten damals, dass viele Städte ihre einstigen jüdischen Bürger, die vertrieben wurden, zu Besuchen einladen. Der Haupt- und Finanzausschuss der Stadt Dorsten befasste sich erst zehn Monate später mit der Bitte und beschloss einen Reisekostenzuschuss in Höhe von 1.500 DM sowie Kosten für einen einwöchigen Aufenthalt. Aus der Chefetage des Rathauses war zu vernehmen, man hoffe, dass es bei diesem Besuch bleiben werde. Es hieß: „Was ist, wenn ein ganzer Rattenschwanz hinterherkommt?“ Der kam nicht! Denn die allermeisten der damals aus der Stadt Vertriebenen wurden ermordet. Eine Privatinitiative von Friedhelm Potthoff, Dirk Hartwich und mir entstand aufgrund meines Zeitungsberichts über den anstehenden Besuch in den Ruhr-Nachrichten (heute DZ). Durch Spenden konnte eine Verlängerungswoche finanziert werden. Im Juni 1983 besuchte der 71-jährige Ernst Metzger seine Heimatstadt in Begleitung seiner Frau Cäcilia, einer ungarischen Jüdin, die ebenfalls den Holocaust überlebte. Beide lernten sich 1945 in einem Auswanderungslager in Malmö (Schweden) kennen und wanderten gemeinsam in die USA aus.
In Dorsten hatten sich etliche Personen gemeldet, die sich ihrer „Freundschaft“ zu Ernst Metzger und seiner Familie entsannen. „Ernst, weißt du noch…?“. Diese Frage stand im Mittelpunkt der Begegnungen mit alten Bekannten und Nachbarn. Nicht alle, denen er begegnete, waren Freunde. In einer Informationsveranstaltung mit Ernst Metzger wurde gesagt, dass es in den Lagern so schlimm ja auch nicht gewesen sein konnte, denn „er (Metzger) hat ja überlebt!“ Und immer wieder hörten die Metzgers in Dorsten (1983!), sei es beim Einkaufen oder bei Veranstaltungen, die dümmliche Feststellung: „Sie sehen gar nicht aus wie Juden!“

Gespräche mit alten Freunden und Nachbaren in Dorsten

Während Metzgers Aufenthalt feierte Bürgermeister Hans Lampen seinen 60. Geburtstag. Dazu lud er offiziell ins Rathaus ein. Auch das Ehepaar Metzger, das gerne kam, um zu gratulieren. Dabei passierte es, dass die Namen aller Gratulanten ausgerufen wurden, wenn sie dem Bürgermeister die Hand gaben, nicht aber die Namen des jüdischen Ehepaares Metzger (Foto). Ein peinlicher Fehler, war unter der Hand im Rathaus zu hören. Ein Gesprächsabend mit Ernst Metzger ist mir noch in guter Erinnerung.
Wir trafen uns in einem kleineren Kreis im Hotel am Kamin und saßen nach dem Essen in privater Runde zusammen. Das waren das Ehepaar Metzger, Rolf Abrahamsohn aus Marl, Schwester Johanna Eichmann und ihre Mutter sowie andere Mitglieder der Forschungsgruppe. In dem Gespräch waren dann die Erinnerungen von Rolf Abrahamsohn und Ernst Metzger der Mittelpunkt des Abends. Cäcilia Metzger verhielt sich dabei auffallend still, was mir anfangs nicht auffiel, später schon. Überrascht waren dann alle Anwesenden, als Metzger und Abrahamsohn feststellten, dass sie zur gleichen Zeit im Lager und im selben Arbeitskommando tätig waren, sich aber nicht kannten, wohl aber den einen oder anderen, mit denen sie damals zu tun hatten. Dann gab es im Austausch der Erinnerungen kein Halten mehr. Ihre Erinnerungen begannen dann immer mit dem Satz: „Weißt du noch, der hat doch immer so eine Holzkiste mit sich getragen!“ Bei den Personen, an die sie sich gegenseitig erinnerten, handelte es sich um Mitgefangene im Arbeitskommando, um Vorarbeiter und dergleichen. Über SS-Wachpersonal redeten sie nicht, wollten es wohl auch nicht. Mir als Zuhörer kam dieser Erinnerungsaustausch so vor, als ob man über irgendeine Reise spricht. Oder wie es ehemalige Stalingradkämpfer taten, wenn sie zusammen saßen und sich an ihr Leben in den Schützengräben erinnerten. Genauso tauschten sich Abrahamsohn und Metzger über die Zeit aus, die sie eine zeitlang im gleichen Arbeitskommando verbrachten.

Ernst Metzger blieb ein Vertriebeber – er starb 1998 in Miami Beach

Mehr als einmal sagte mir Ernst Metzger, wie schwer es im gefallen sei, wieder Dorsten zu besuchen und dann mit all den Erinnerungen an die Zeit der Entwürdigung und Verfolgung in den Straßen der Stadt von 1933 bis zur Deportation 1942 konfrontiert zu werden. Schwergefallen sei es vor allem seiner Frau Cäcilia, der einst ungarischen Jüdin. Sie nahm dann nur noch selten an Ausflügen und Veranstaltungen in Dorsten teil, weil sie 40 Jahre nach Auschwitz plötzlich eine Aversion gegen und Angst vor Deutschem und durch die deutschen Sprache bekam. Sie konnte und wollte sie nicht mehr hören. Das erklärte mir ihr Mann dann so, dass seine Frau Deutschland eigentlich nur aus der Sicht von Viehwaggons gesehen hatte, die Deutschen nur in Schaftstiefeln und Uniformen mit Hundepeitschen in der Hand sah und die deutsche Sprache nur von Kommandos kannte sie wie „raus, raus!“, „schnell, schnell!“, „ab in die Brause!“, „bleib stehen!“ Das alles hätte sie bis jetzt nicht verarbeitet.
Als das Ehepaar Metzger nach 14 Tagen wieder abgereist war, hatte ich noch Briefverkehr mit ihm. Er bedankte sich bei allen für die freundliche Aufnahme in Dorsten und bat mich um Verständnis, wenn er den Kontakt zu seiner alten Heimat und zu mir abbrechen müsse. „Meine Frau und ich halten die Erinnerung nicht aus!“ – Ernst Metzger blieb ein Vertriebener. Er starb 1998 in Miami Beach. – Das Foto zeigt Stolpersteine in Dorsten zur Erinnerung an die ermordeten Mitglieder der Familie Metzger.

Josef Moises wanderte 1939 nach Palästina aus – er besuchte Wulfen 1978

Die Kontakte zu den Angehörigen von Dorstenern jüdischen Glaubens, die wie Metzger vertrieben oder in die Todeslager deportiert, dort getötet wurden oder überlebten und danach nach Israel, Südafrika, den USA, Schweden oder Großbritannien emigrierten, waren oft Zugänglicher. Zu den Juden, die vor der Deportation in die Konzentrationslager fliehen konnten, gehörte auch Josef Moises aus Wulfen. Er und seine Frau entkamen im Frühjahr 1939 über die Schweiz nach Haifa (Palästina). Fünf Jahre vor dem Besuch der Metzgers, reiste er 1978 in seine Wulfener Heimat, um das Grab seines Vaters zu besuchen. Über die Peitschenschläge, die er 1939 am Tage der Ausreise auf dem Weg zum Bahnhof von Wulfener Nachbarn erhalten hatte, schwieg er. Er sagte nur: „Es war eine verrückte Zeit!“ Weniger Zurückhaltend erfuhr in der Gasstätte Humbert, die Josef Moises besuchte, weil er vor 1933 dort einem Wulfener Stammtisch angehörte. Als Wulfener ihn beim Besuch der Gaststätte erkannten, hörte er einen von ihnen sagen: „Was will denn der Jude wieder hier!“
Als die Dorstener städtische Rats- und Verwaltungsdelegation anlässlich der Eingehung der Städtepartnerschaft mit Rybnik (Polen) 1994 einige Tage in Rybnik weilte, fuhren Stadtdirektor Dr. Karl-Chistian Zahn, dessen Frau und ich sowie ein Kollege von der WAZ mit dem Taxi von Rybnik nach Auschwitz. Das Bild zeigt mich mit Dr. Zahn  (l.) in Auschwitz. Was uns auffiel war, dass es unmittelbar vor dem Konzentrationslager, wo Busse und PKW halten, ein großes und lautes Tamtam von Taxifahrern und Fremdenführern gab, die den Ankommenden und Abfahrenden lautstark ihre Dienste anboten. Gerade beim Verlassen des Todeslagers, in dem rund eine Million Menschen ermordet wurden, wir die Vergasungszellen, die Verbrennungsöfen, die Baracken und Erschießungsplätze gesehen hatten und davon seelisch belastet waren, dann von mehreren Taxifahrern und Fremdenführern gleichzeitig so reißerisch angesprochen zu werden, war dies über alle Maßen unpassend und lästig – harmlos ausgedrückt.

Das jüdische Museum leistet einen wichtigen Beitrag

Blickt man sich in Deutschland und im übrigen Europa um, sieht man, wie in ganz Europa Nationalismus propagiert wird und Feindbilder genutzt werden, um die eigene dumpfe Ideologie zu rechtfertigen. Der Holocaust wird relativiert, die Erinnerungskultur bröckelt, beklagt wird ein wachsender Antisemitismus. Die Unkenntnis über die Schreckenstaten der Nationalsozialisten wächst ebenfalls. Außenminister Maaß sagte 2019, dass Geschichte „von einem Erinnerungs- zu einem Erkenntnisprojekt“ werden müsse. Aus Gedenkstätten müssten mehr Lernorte werden. Leider ist das wünschenswerte Ziel, dass aus historischem Wissen ein anderes soziales Verhalten erwächst, immer noch nicht erreicht. Dorsten leistet mit dem „Jüdische Museum Westfalen“ einen wichtigen Beitrag, dass sich das ändert.

Siehe auch weitere Artikel zu dem Thema in:  www.dorsten-unterm-hakenkreuz.de

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Ein Kommentar zu Der Weg nach Auschwitz, Synonym für Vernichtung und Ermordung jüdischer Menschen, begann auch in Dorsten – Wege zurück gab es nach1945 kaum; wenn, dann nur besuchsweise

  1. Dirk Hartwich sagt:

    Danke Wolf Stegemann für diesen Beitrag, der auch bei mir viele Erinnerungen wach ruft. Am Sonntag besuchten wir die Zeche Zollverein in Essen, um die Ausstellung zum 75. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz durch die Rote Armee zu besuchen. Eine besondere Portrait-Präsentation von 75 noch lebenden Holocaust-Opfern. Der Ausstellungsraum in der Museumszeche nahm den Besucher vom ersten Augenblick gefangen. Dann die großformatigen Fotos. In Augenhöhe in direktem Blickkontakt zu den geschundenen Menschen. Um die Kurzfassung der von den Deutschen gequälten abgebildetes Personen zu lesen, muss der Blick gesenkt werden. Vom Kurator so gewollt? Ich weiß es nicht, aber wer will, kann in den Gesichtern und besonders den Augen lesen. Die von uns erforschte Dorstener jüngere Geschichte hat vielen die Augen in der Lippestadt geöffnet. Es ist gut, immer wieder daran zu erinnern. Ich mache das auch regelmäßig auf der Internetseite http://www.spd-rhade.de. Danke und ein Gruß aus Rhade.
    Dirk Hartwich, Rhade

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