Juden wurden auch in Dorsten von Kommunal- und Staatsbehörden ausgeplündert, bevor sie in die Todeslager kamen. Nach dem Krieg gab es Wiedergutmachungsämter (2)

Spottbild über die Vertreibung der Juden an einer Wand des SA-Lagers an der Schleuse in Dorsten

Von Wolf Stegemann

27. Januar 2019. – Der 27. Januar, die Befreiung des Lagers Auschwitz 1945, ist in Deutschland der offizielle Erinnerungstag an die Vertreibung und Ermordung der Juden im nationalsozialistischen Deutschland. Daher haben wir bereits in der letzten Woche einen Beitrag über jüdische Bürger in Dorsten veröffentlicht, die seit 1809 wieder in Dorsten leben und auch Besitz erwerben durften (Häuser, die einst Dorstener Juden bis 1942 gehörten, bevor sie vertrieben oder in Lagern ermordet wurden. Die Wiesenstraße war das geistige Zentrum des Dorstener Judentums – Ein Überblick (1)). Rund 130 Jahre später wurde ihnen der Besitz wieder abgenommen und auch ihr Leben – 41 Dorstener Bürger jüdischen Glaubens wurden ermordet, darunter als jüngste Kinder zwei Sechsjährige (siehe unten). – In dieser Folge befassen wir uns mit der Wegnahme des Besitzes jüdischer Bürger Dorstens durch (christliche) Bürger der Stadt, damals „arisch“ genannt, bzw. durch die Stadt selbst. Wir bitten um Verständnis, wenn wir die Namen derer, die sich am Vermögen jüdischer Bürger bereichert haben, aus Rücksicht auf ihre heutigen Familien nicht nennen. Wir bitten auch um Verständnis, wenn dieser Artikel – gemessen an den üblichen anderen – eine Überlänge hat, um das Thema umfassend zu erläutern und es abzuschließen.

Für wenig Geld Häuser und Grundstücke der Juden „arisiert“

Die „Entjudung der Wirtschaft“ war ein erklärtes Ziel der Nationalsozialisten, wobei sie nicht nur die rassi­sche Ideologie im Auge hatten, sondern auch die viel­fältigen Möglichkeiten, die Staatskassen zu füllen. Was dem Staate recht war, konnte den NS-Anhängern und Mitläufern nur billig sein. Zehntausende profitierten von der Vertreibung und Ermordung der jüdischen Bürger, wobei der deutsche Staat über seine Finanzäm­ter der größte Profiteur war. Allein 900 Millionen Reichsmark kassierte er als sogenannte „Reichs­fluchtsteuer“ von den emigrierenden Juden. Der Wulfener Josef Moises musste über 12.000 RM „Reichs­fluchtsteuer“ bei seiner im Gefängnis erpressten Aus­wanderung nach Palästina bezahlen. Als während des Novemberpogroms 1938 jüdische Sy­nagogen, Geschäfte und Wohnungen verbrannt und demoliert wurden, kassierte der Staat doppelt: Der an­gerichtete Schaden musste von den Opfern gezahlt wer­den, die fälligen Versicherungssummen bekamen nicht die Geschädigten, sondern ebenfalls die Staatskasse. Zudem musste die gesamte deutsche Judenschaft 1938 und 1939 eine als „Sühneleistung“ deklarierte Abgabe von über einer Milliarde Mark an den Staat entrichten, 1940 noch einmal 95 Millionen Reichsmark. Die Behörden verstanden es, durch Terror und Ge­setze Juden aus dem Wirtschaftsleben zu drängen, sie um ihren privaten Besitz und um ihre Geschäfte zu bringen, waren es nun Fabriken oder Tante-Emma-Lä­den. Die Überführung jüdischen Besitzes in arische Hände wurde „Arisierung“ genannt. Der Staat setzte den Ver­kaufswert aller jüdischen Betriebe auf einen Bruchteil des Verkehrswertes fest und sorgte mit abgestuften Druckmitteln für die Veräußerung nur an erwünschte Personen. Neben den großen Arisierungsgewinnlern wie die IG-Farben, die Flick-Gruppe und Großbanken waren es viele „arische“ Kaufleute, z. B. Gustav Schickedanz von „Quelle“ Nürnberg-Fürth, Parteigenossen oft, die mit der Übernahme von jüdischen Manufaktur­warenhandlungen, Metzgereien und Geschäften nicht nur guten Profit machten, sondern auch lästige Kon­kurrenten loswurden. Auch hier verdiente der Staat, indem er im Schnitt rund 30 Prozent des „Entjudungsgewinns“ für sich abzweigte. Die jüdischen „Verkäu­fer“ mussten aber die Gesamtsumme (zuzüglich der Ausgleichssumme) als Gewinn versteuern und weitere 20 Prozent als „Sühneleistung“ zahlen. Wenn dann dennoch etwas übrigblieb, kassierten die Banken, oder der Betrag ging auf ein Sperrkonto, das unter der Kontrolle der Gestapo stand. Nach der Deportation der Jüdischen Bürger gingen die Gelder in den Besitz des Staates über. Bewegliche Wertsachen, Kunstbesitz und Schmuck durften Juden ohne Genehmigung weder verschen­ken, übertragen, verpfänden oder frei verkaufen. Jede Veräußerung hatte über die Ankaufsstellen des Staates bzw. der Kommunen zu erfolgen. 1939 erging eine Verordnung, nach der al­ler Schmuck abgeliefert werden musste. Ab 1940 wurde eine „Judensteuer“ erhoben, die den Tarnnamen „So­zialausgleichsabgabe“ führte. Vom Frühjahr 1941 an beutete der Staat arbeitsfähige Juden durch Zwangsar­beit unter Aufhebung der Arbeitsschutzbestimmun­gen und der Tarifverträge aus.

„Judenmöbel“ wurden öffentlich versteigert – auch in Dorsten

Allein an Betriebs- und Grundstücksvermögen wur­den von 1938 an rund vier Milliarden RM in „deut­schen Besitz“ überführt. In Kaufkraft umgerechnet wären dies heute 16,4 Milliarden (1937: 1 RM = 4,10 Euro). Der „Run der Ariseure“ nahm im November 1938 Formen einer „Torschlusspa­nik“ an, denn die besten Objekte waren bereits weg. Oft gab es für jedes jüdische Grundstück drei bis fünf Bewerber. Rund 10.000 kleine Geschäfte fanden neue Eigentümer. Auf ähnliche Weise gelangten Äcker, Wiesen und Häuser an arische Besitzer, wobei auch und insbesondere die „kleinen Leute“ in den kleinen Städten und Gemeinden ihren Gewinn machten, wie auch in Dorsten und den Landgemeinden Lembeck und Wulfen. Während der „Reichskristallnacht“ im Oktober 1938 (Zerstörung von Geschäften und Synagogen) wurde in großem Umfang geplündert. Auch in Dorsten. Das Dorstener Synagogeninven­tar, u. a. auch Silbergegenstände, wurde bei der Verwü­stung des Gotteshauses von Plünderern mitgenom­men. Es tauchte nicht wieder auf. Die jüdischen Mie­ter mussten auch ihre Wohnungen räumen. Beispiels­weise wurde der Familie Metzger am Hochstadenwall die Wohnung gekündigt und mit der Zwangsräumung gedroht. Wer Beziehungen hatte, kam billig oder auch ohne Bezahlung an „Judenmöbel“; auch in Dorsten, wo jüdischer Hausrat öffentlich versteigert wurde. Nach der Deportation wurden nicht wenige Objekte „ausgeräumt“. Eine Augenzeugin erinnert sich, dass nach der Deportation der jüdischen Familien aus dem Gemeindehaus in der Wiesenstraße ein SS-Mann u. a. die Spardose eines kleinen jüdischen Mädchens, das soeben mit seinen Eltern in das Todeslager Riga de­portiert wurde, plünderte und die paar Pfennige an sich nahm…
Für die materiellen Schäden leistete die Bundesrepu­blik nach dem Kriege als Rechtsnachfolgerin des Dritten Reiches Wiedergutmachung. Den neuen Besitzern wurden Häuser und Grundstücke nur in den seltensten Fällen wieder abgenommen. Meist wurde der „Rücker­stattungsanspruch“, den die früheren Besitzer, deren Erben oder die Jewish Trust Corporation, bei den Wiedergutmachungsämtern geltend machten, durch einen Vergleich aufgehoben. Oft hatten die neuen Besitzer nur minimale Nachzahlungen als Entschädigung zu lei­sten.

Dorstener „Arisierungen“ vor 1945
und sogenannte „Wiedergutmachungen“ danach

Gebrüder Kaufmann: Siegmund Cohen aus Aplerbeck, alleiniger Inhaber der Firma Gebrüder Kaufmann, erwarb 1928 die Grundstücke Lippestraße 39, Im Kühl 10,12,16,18,20 und richtete dort die Firma „Gebrüder Kaufmann – das große Ausstattungs- und Bekleidungshaus in Dor­sten in Westfalen“ ein. 1930 kam die Firma in finan­zielle Schwierigkeiten, so dass das Geschäft im August 1931 geschlossen werden musste. Das Amtsgericht eröffnete das Konkursverfahren. Cohen verzog nach Essen und blieb in den folgenden Jahren Steuerabga­ben für seinen Besitz schuldig. Als in nationalsozialisti­scher Zeit ein Strafverfahren wegen Steuerhinterzie­hung gegen Cohen eingeleitet wurde, war er bereits ins Ausland geflüchtet. Die Gebäude standen leer, verfie­len zusehends und wurden auf Antrag der Dorstener Kämmereikasse ab 1936 zwangsverwaltet. Da die Er­trägnisse nicht einmal die Grundsteuern deckten, die Forderungen immer größer wurden, beantragte die Kämmereikasse der Stadt Dorsten die Zwangsverstei­gerung des auf 155.000 RM geschätzten jüdischen Be­sitzes. Die Forderungen der Stadt beliefen sich auf 4.250 RM. Das Amtsgericht Dorsten gab dem Antrag statt (Az. K 56/31). Bei der Versteigerung am 11. März 1939 erwarb ein Dorstener Kaufmann Häuser und Grundstücke für 60.000 RM.
1952 beantragte die Jewish Trust Corporation for Germany, London WC 1, Woburn House, vertreten durch deutsche Rechtsanwälte beim Wiedergutma­chungsamt beim Landgericht Essen Rückerstattung des jüdischen Besitzes. Bei der mündlichen Verhandlung am 19. Juni 1952 (Az. RüT 1130/51) schlossen die Parteien einen Vergleich: Die Jewish Trust Corpora­tion verzichtete auf Rückerstattung des Besitzes. Als Ausgleich aller Ansprüche hatte der damalige Dorstener Käufer eine Zahlung von 500 DM auf das Konto der JTC in Mülheim zu zahlen – innerhalb von acht Tagen.

Synagogengrundstück: Haus und Grundstück Wiesenstraße 24 gehörten der jüdischen Gemeinde. Nach Auflösung ging der Besitz an die von der Gestapo dominierten „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“ über, die von den Nazis aufgelöst und deren Besitz dann beschlagnahmt und vom Deutschen Reich ver­einnahmt wurde. Haus und Grundstück „erwarb“ die Stadt Dorsten, die nach dem Kriege eine Entschädi­gung zahlen musste (ausführlicher Bericht darüber siehe weiter unten).

Erbengemeinschaft David Perlstein: Der Besitz der bebauten Grundstücke Essener Straße 22 und 24 ging nach dem Tode von David Perlstein am 2. September 1933 an die Erbengemeinschaft über. Die meisten Angehörigen wohnten in Dorsten. Im Zuge der Zwangs­arisierung verkaufte die Erbengemeinschaft die bei­den Grundstücke an der Essener Straße (Metzgerei mit Wurstküche und Laden) sowie zwei Grundstücke auf der Hardt für insgesamt 12.000 RM. Dies ist genau die Summe, mit der die Grundstücke mit einer Hypo­thek und mit Grundschuldeintragungen bei der Kreis­sparkasse belastet waren.

Amalie Perlsrein mit den Enkelinnen Ursel und Liesel, beide Mädchen im KZ ermordet.

Der ursprünglich höher ver­einbarte Kaufpreis von 16.000 RM wurde vom Regie­rungspräsidenten nicht genehmigt, sondern gemäß §§ 8, 15, 17 der Verordnung über den Einsatz des jüdi­schen Vermögens vom 3. Dezember 1938 reduziert. Als die betagte Witwe Amalie Perlstein auf ihre bean­tragte Auswanderung hinwies, durfte sie mit ihren un­verheirateten Kindern vertraglich als Mieterin in ihrem jetzt ver­kauften Haus wohnen bleiben. Die Miete betrug 20 RM. Zur Auswanderung kam es nicht. Amalie Perlstein starb im Oktober 1941 in Dorsten. Vor dem Wiedergutmachungsamt beim Landgericht Essen kam es am 8. April 1952 zu einem Vergleich zwi­schen der Jewish Trust Corporation und dem neuen Ei­gentümer, einem Metzgermeister (Az.: Rü T 86/52). Die beiden Grundstücke an der Essener Straße durfte er behalten. Dafür zahlte er an die JTC in London 5.000 DM – in monatlichen Raten von 50 DM. Er be­hielt zwei Grundstücke in bester Geschäftslage, die er in 100 Monatsraten abzahlen durfte. Für die beiden anderen Grundstücke auf der Hardt, die er kurz nach dem Erwerb im Jahre 1939 an die Stadt weiterverkaufte, zahlte die Stadt Dorsten nach Abschluss des Wiedergutmachungsverfahrens (Az.: Rü T 1159/51, Rü T 131/52) aufgrund eines Vergleichs 1952 eine Entschädigungssumme von 1.100 DM an den Vertreter der Jewish Trust Corporation – sofort und in bar.

Metzgerei Ernst Perlstein: Schon 1935 „arisierte“ der Metzger Ernst Perlstein sei­nen Besitz in der Klosterstraße 3; danach wanderte er nach Amerika aus. Am 1. Dezember 1935 schloss er den Übernahmevertrag mit den Erwerbern, einem Metz­germeister und dessen Frau. Perlstein verkaufte Grundstück, Haus und Inventar, wobei ein Teil des Kaufpreises als Hypothek bestehen blieb, die erst 20 Jahre später gelöscht wurde.

Hermann Perlstein mit Gesellen Heinz Ameling und Günther Gesch

1937 verkaufte das „arisierende“ Ehe­paar das Grundstück zu einem um 20 Prozent höheren Kaufpreis, als es selbst bezahlt hatte. Im Auftrage von Ernst Perlstein, der 1943 in Pittsburgh die amerikanische Staatsbürgerschaft erhielt, betrieb 1949 ein Anwalt ein Wiedergutmachungsverfahren ge­gen die beiden nachfolgenden Besitzer im Rahmen von Rückerstattungsansprüchen. 1951 schaltete sich die Jewish Trust Corporation in das Verfahren beim Wiedergutmachungsamt Essen ein. Aufgrund des Ver­fahrens wurde ein Rückerstattungsanspruch gemäß Rückerstattungsgesetz Art. 53 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 59 der britischen Militärregierung eingetragen. Im gleichen Jahr kam ein Vergleich zustande. Die neuen Eigentümer zahlten einen symbolischen Wie­dergutmachungsbetrag an Perlstein. Die aufgrund des Verkaufs an den Erstkäufer eingetragene Sicherungs­hypothek aus dem Jahre 1935 wurde im Verhältnis 10:1 umgestellt und 1954 an Ernst Perlstein zurückgezahlt.

Kaufhaus zum Bär: Seit 1919 betrieb Else Neuberg in der Lippestraße 22a (heute Lippestraße 18/Ecke Bauhausstiege) das Kauf­haus zum Bär. Durch Kaufvertrag vom 4. Mai 1937 wurde das Geschäft „arisiert“. Die Übergabe des Hau­ses mitsamt dem Inventar an den neuen Besitzer er­folgte am 1. Juni 1937. 1950 wurde das Wiedergutma­chungsamt beim Landgericht Essen tätig und veran­lasste die Eintragung eines Rückerstattungsanspruchs, der wenige Monate später aufgrund eines Vergleichs wieder gelöscht wurde. Ob und in welcher Höhe Wie­dergutmachungszahlungen geleistet wurden, ist nicht bekannt.

Modehaus Joseph: Als der Kaufmann Ernst Joseph im August 1919 Grundstück und Haus am Markt 14 kaufte und dort ein Mode­haus einrichtete, beglich er den Kaufpreis in Höhe von 60.000 RM neben Bargeld auch mit der Übernahme ei­ner Hypothek, die auf dem Hause lag. Durch den Um­bau des Hauses erhöhte sich der Wert, auf 80.000 RM. Noch 1919 löste Ernst Joseph die Restgeldhypothek des Vorbesitzers ab und nahm dafür ein Darlehen bei der Kreissparkasse auf. Nach dem Boykott der jüdischen Geschäfte vom 1. April 1933 wanderte die Familie Joseph nach Holland aus. Das Geschäft übernahm eine Dorstener Putzmacherin. Ernst Joseph blieb aber Eigentümer des Hauses.

SA-Stabschef Lutze vor dem ehem. jüd. Modegeschaft Joseph

Am Tage des Boykotts kündigte die Kreisspar­kasse das Darlehen an den in Holland wohnenden Joseph mit einer Frist von nur acht Tagen. Das eingeleitete Verfahren der Zwangsversteigerung schleppte sich hin. Erst 1935 wurde die Kreissparkasse mit einem Bruchteil des tatsächlichen Wertes Eigentümer des Hau­ses am Markt. Im März 1939 verkaufte die Kreissparkasse das Anwesen zu einem niedrigen Kauf­preis an den stellvertretenden NSDAP-Ortsgruppen­leiter Gahlen, einem Handwerksmeister. 1948 strengten die überlebenden Kinder des in Ausch­witz ermordeten Ehepaares Joseph ein Wiedergutma­chungsverfahren an, das die Jewish Trust Corporation gegen die Kreissparkasse und den späteren Eigentü­mer beim Landgericht Essen betrieb. Es wurde 1951 mit einem Vergleich abgeschlossen. Der neue Eigentümer zahlte für ein Geschäftshaus in bester Dorstener Lage am Marktplatz den lächerlich kleinen Betrag von 200 DM an die Kinder der ermordeten früheren Haus­besitzer.

Jüdisches Gemeindehaus in der Wiesenstraße; weißes Giebelhaus rechts im Hintergrund

Synagoge in der Wiesenstraße – die Stadt „erwarb“ Haus und Grundstück

Die Synagoge war in einem Wohnhaus in der Wiesen­straße untergebracht, das die jüdische Gemeinde 1869 als Gemeindehaus erwarb. Bis zur Zeit des Nationalso­zialismus war das Haus, in dessen erster Etage drei Räume zur Synagoge umgebaut worden waren, stets auch von Nichtjuden bewohnt. 1938 zerstörten SA-und SS-Männer, Mitglieder der HJ und des BDM die Synagogenräume. In dem immer mehr dem Verfall preisgegebenen Haus mussten später zwei jüdische Fa­milien wohnen, bevor sie in das Ghetto von Riga depor­tiert wurden. Danach wohnten in dem von der Stadt pseudo-„erworbenen“ Gebäude Dorstener SS-Angehörige. 1945 fiel es bei dem großen Bombenangriff in Schutt und Asche. Heute stehen auf dem neuparzellierten Grundstück wieder Wohnhäuser. Da die Synagogengemeinde Dorsten eine öffent­lich-rechtliche Körperschaft war, konnte sie auch Be­sitz erwerben, so dann auch 1869 Haus und Grundstück Dor­sten Nr. 364 (ab 1902 bis Kriegsende: Wiesenstraße 24) für 901 Taler. In diesem Haus richtete die Synagogengemeinde Dor­sten neben einer Schule und Wohnungen auch einen Synagogenraum ein. Später wohnte auch der jüdische Pferdemakler Josef Minkel im Ge­meindehaus. Das jüdische Gemeindeleben in diesem Haus vollzog sich in Zurückgezogenheit und Stille. Am 9. November 1938 verwüsteten Nationalsozialisten den Synagogenraum. Er wurde verschlossen. Josef Minkel starb im Februar 1939, seine Tochter Hertha wanderte nach England aus. Für die freigewordene Wohnung interessierte sich der jüdische Viehhändler Julius Metzger, der am Hochstadenwall 16 wohnte. Denn ihm wurde von der Hausbesitzerin gekündigt. So suchte er, um einer Zwangsräumung zu entgehen, für seine große Familie eine neue Unterkunft. Die Familie Metzger zog am 5. März 1939 in das jüdische Gemeindehaus. Nachdem 1941 die „Synagogengemeinde e.V. Dorsten“ in die von den Na­tionalsozialisten initiierte und kontrollierte „Reichsvereinigung der Ju­den in Deutschland“ zwangsweise eingegliedert wor­den war, übernahm die Reichsvereinigung auch alle Vermögenswerte, so auch das jüdische Gemeindehaus in der Wiesenstraße, das später von der Stadtverwaltung zum „Judenhaus“« deklariert wurde und in das kurz vor der Deportation der Juden in die Ghettos und Todeslager Anfang 1942 auch noch die Familie des letzten Vorste­hers der jüdischen Gemeinde Dorsten, Julius Ambrunn, einziehen musste.

“Dorstener Volkszeitung” vom 11. November 1938

Gestapo räumte die zerstörte Synagoge – das letzte „Judenhaus“ in Dorsten

Am 23. Januar 1942 räumte die Gestapo in den Morgenstunden das Haus. Alle Juden wurden auf LKW verladen, nach Gelsenkirchen gebracht und von dort in das Ghetto von Riga deportiert. Das war das Ende der jüdischen Gemeinde in Dorsten. Vier Monate später suchte Bür­germeister Dr. Joseph Gronover für das leerstehende Haus einen Verwalter, weil „Vertreter der jüdischen Kultusgemeinschaft nicht zu ermitteln“ waren (sie waren schon in den Todeslagern) und schlug dem Amtsgericht den Ortsamtsleiter der NS-Volkswohlfahrt und Obergerichtsvollzieher Karl Wol­ters vor. Die Stadt Dorsten „erwarb“ das Haus und Grundstück für 3027 RM. Am 8. Fe­bruar 1943 beurkundete der Dorstener Notar Nord­mann den Kauf. Das Geld ging auf ein Sonderkonto „Grundstückserlöse“ der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland, das sogleich darauf vom Finanzamt beschlag­nahmt wurde. Kurz nachdem die Stadt Besitzer war, zogen die Familie des SS-Mannes Wilhelm W. und die Familie L. in das inzwischen baufällig gewordene Haus. Die drei Räume der Synagoge im 1. Stock waren „völlig unbe­wohnbar“. Am 21. August 1943 stürzte bei Bombardierungsdetonationen dann auch der frühere Sy­nagogenraum zusammen, dessen Mauern die Dach­konstruktion nicht mehr halten konnten. Bei der großen Bombardierung der Alt­stadt am 23. März 1945 versank auch das ehemalige jü­dische Gemeindehaus in Schutt und Asche.

Stadt zahlte für die Synagoge als „Wiedergutmachung“ 3400 DM

1951 machte die „Jewish Trust Corporation for Germany“ (JTC) in Mülheim bei der Stadt Dorsten An­sprüche in Sachen des im Ghetto umgekommenen Ju­lius Metzger geltend. Die JTC vertrat die Ansprüche geschädigter Juden gegen das Deutsche Reich und son­stige Besitzer einstigen jüdischen Vermögens. Die Grundlage dazu waren Gesetze, Verordnungen und Erlasse des Wiedergutmachungsrechts. In den Jahren 1951 bis 1953 ging es vor allem darum, ob die Stadt Dorsten entschädigungspflichtig sei, obwohl sie 1943 den Kaufpreis auf ein Sonderkonto der Reichs­vereinigung gezahlt hatte.

Architekturzeichnung des Synagogengebäude Wiesenstraße

Die Stadt Dorsten stellte sich auf den Standpunkt, dass sie aufgrund eines recht­mäßigen Kaufvertrages und der Zahlung des Kaufprei­ses auch rechtmäßige Eigentümerin sei. In der Recht­sprechung nach 1945 wurde von Landgerichten und Oberlandesgerichten festgestellt, dass die „Reichsver­einigung der Juden in Deutschland“ in ihrem rechtli­chen Wesen als nationalsozialistisch anzusehen sei. Die Überleitung jüdischen Vermögens an die Reichs­vereinigung der Juden sei ein Beraubungsakt, eine Zahlung an die Reichsvereinigung keine Zahlung zur freien Verfügung der ehemaligen Eigentümer gewe­sen. In verschiedenen Urteilen wurde aufgeführt, dass der heutige Eigentümer von Grundstücken den Wert des Grundstücks erneut zu zahlen habe, da sämtliche Sonder- und Sperrkonten der Reichsvereinigung durch das Deutsche Reich beschlagnahmt worden seien. Die Synagogengemeinde Dorsten hatte nie einen Betrag aus dem Verkauf des Jahres 1943 erhalten, sie war noch immer Eigentümerin des Grundstücks. Längere Zeit wurde über den Grundstückswert gestritten, der abschließend auf 12 DM pro Quadratmeter festgesetzt wurde. Während der Verhandlungen war der Nachbar des Synagogengrundstücks bereit, das Grundstück für 14 DM pro Quadratmeter von der JTC Mülheim zu er­werben. Im September 1953 erfolgte dann beim Wiedergutmachungsamt in Essen ein entsprechender Ver­gleich: Die JTC verzichtet auf die Rückerstattung, die Stadt Dorsten zahlt 3.400 DM auf ein Sperrkonto der JTC, die dann den Anspruch gegen das Deutsche Reich wegen des damaligen unterschlagenen Kaufprei­ses an die Stadt Dorsten abtritt. Der Haupt- und Finanzausschuss stimmte im Novem­ber 1953 dem Vergleich zu und beschloss gleichzeitig, das Grundstück im Rahmen des Umlegungsverfahrens an den Nachbarn zum gleichen Preis weiterzugeben. Die Zahlung erfolgte im November 1953. Einen Monat später wurde das Grundstück vom Kreisbeauftragten für gesperrte Vermögen beim Finanzminister des Lan­des Nordrhein-Westfalen freigegeben.

Gedenktafel verschwand vom Ort des damaligen Geschehens

30 Jahre später beantragte die Forschungsgruppe Dor­sten unterm Hakenkreuz, an der Stelle, wo einst die Sy­nagoge stand, eine von Schwester Paula (Tisa von der Schulenburg) gestaltete Gedenktafel anzubringen. Der Hausbesitzer lehnte ab. Die Tafel wurde daher am Gebäude des Alten Rathauses am Marktplatz angebracht, weil dort 1938 Synagogeninventar verbrannt worden war. Die Gedenktafel erinnert an die Demütigung, Verfolgung, Vertreibung und Ermordung der einstigen jüdischen Bürger der Stadt Dorsten während der NS-Zeit. Jahre später wurde die Gedenktafel von der Stadt abmontiert und im Keller eingelagert und der Orts- und Geschichtsverein der Stadt brachte an der Stelle, wo die Gedenktafel ging, eine eigene der Geschichtstafeln an, welche über die Geschichte des Marktplatzes informiert. Erst nach intensiver Nachfrage von Dorstener Bürgern, darunter Ratsmitglied Petra Somberg und W. Stegemann, auf dessen Initiative die Tafel 1983 angebracht worden war, wurde sie wieder öffentlich gemacht und an einem Haus hinter dem früheren Eiscafé Filippin in der Wiesenstraße wieder gezeigt.

Die ermordeten Juden aus der Stadt Dorsten
und den Landgemeinden, den heutigen Stadtteilen

Ihre Seelen seien eingebunden im Bund des Lebens

Julius Ambrunn (70), Rosalie Ambrunn (71), Kurt Ambrunn (28), Bertha Oppenheimer-Cohen (50), Gustav Cohn (70), Berta Grünenklee (54), Helene Jacobs (60), Ernst Joseph (60), Luise Joseph (61), Hugo Lebenstein (38),   Bertha Lebenstein (44), Selma Lebenstein (47), Moritz Lebenstein (50), Josef Lebenstein (58), Paula Lebenstein (50), Günther Lebenstein (14), Josef Lebenstein (48) , Judis Metzger (6), Sara Metzger (74), Julius Metzger (69),  Mathilde Metzger (32), Walter Metzger (35), Hermann Levinstein (58), Emil Minkel (33), Hildegard Perlstein (42), Hermann Perlstein (48), Walter Perlstein (41), Sally Perlstein-Sanders (39), Hedwig Perlstein (30), Ingeborg Perlstein (10), Robert Perlstein (6), Ursel Perlstein (12), Hertha Perlstein (43), Siegmund Reifeisen (52), Gertrud Reifeisen (48), Walter Rosenbaum (44), Hella Schiffenbauer (20), Karl Ulmer (20), Adele Moises-Wieler (37).

Siehe auch:

Häuser, die einst Dorstener Juden bis 1942 gehörten, bevor sie vertrieben oder in Lagern ermordet wurden. Die Wiesenstraße war das geistige Zentrum des Dorstener Judentums – Ein Überblick (1)

Weihnachten wurde in der NS-Zeit ideologisch umgedeutet, alte Weihnachtslieder bekamen andere Texte und Hitler sollte als Weltenerlöser vergöttlicht werden

Der Führer wollte 1934 das Reichsarbeitsdienstlager in Deuten besuchen. Die Leute saßen auch in den Bäumen und warteten – doch Hitler kam nicht

Was war der Nationalsozialismus im „neuen“ Reich? Joseph Wiedenhöfer, Direktor des Gymnasium Petrinum bis 1932, wusste schon 1934 die Antwort: Eine Forderung der Religion!

Richard Hildebrandt – Dorstener Petrinum-Abiturient wurde als Kriegsverbrecher in Nürnberg verurteilt und in Polen gehenkt

Blick in Dorstens Nazi-Zeit: Hauptsturmführer Otto Weißenberg war Dorstens ranghöchster und brutaler SA-Führer – er starb 1961 als Nachtwächter im Sauerland

Wie die katholische „Dorstener Volkszeitung“, Vorgängerin der heutigen „Dorstener Zeitung“, zu Beginn der NS-Zeit gleichgeschaltet und ihr von der NSDAP der Maulkorb verpasst wurde

_______________________________________________________________

Quelle: Wolf Stegemann in W. Stegemann/Sr. Johanna Eichmann (Hg.): „Juden in Dorsten und in der Herrlichkeit Lembeck“, 1989
Dieser Beitrag wurde unter Geschichte, Jüdisches, Nationalsozialismus, Rassismus, Zurückgeblättert, Zweiter Weltkrieg abgelegt und mit , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert