Internationaler Auschwitz-Gedenktag: Der Dorstener Ernst Metzger hat die Hölle von Auschwitz überlebt – 1983 besuchte er seine Heimatstadt, der er sich nicht mehr annähern konnte

Stolpersteine in Dorsten

Von Wolf Stegemann

27. Januar 2017. – An diesem Freitag jährt sich zum 72. Mal die Befreiung des größten Vernichtungslagers der Nationalsozialisten. Auschwitz wurde weltweit zum Symbol für den Holocaust. Über eine Million Menschen verloren hier auf grausame Weise ihre Würde und ihr Leben. Seit 1996 ist der 27. Januar offizieller deutscher Gedenktag, 2005 erklärten ihn die Vereinten Nationen zum „Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust“. Auch Dorstener Bürger jüdischen Glaubens wurden in Auschwitz und in anderen Todeslagern ermordet. Das waren Angehörige der Familien Bendix, Cohn, Joseph, Lebenstein, Metzger, Minkel, Neuberg, Perlstein, Reifeisen, Schöndorf. Ihnen gilt besonders heute unser aller Gedenken. Es gab auch Juden, die Auschwitz überlebt haben. Dazu gehört Ernst Metzger, geboren 1912, ein Dorstener Jude, der nach seiner Befreiung in die USA auswanderte. Nur noch einmal besucht er seine Heimatstadt .

Ernst Metzger 1983

Es ist dem alten Mann schwer gefallen, seine Heimatstadt Dorsten wieder zu sehen, obwohl es sein Wunsch war. Nach einem langen Fernbleiben kehrte er 1983 nach über 40 Jahren zurück – wenn auch nur für 14 Tage. Die Forschungsgruppe „Dorsten unterm Hakenkreuz“ betreute das Ehepaar. Ernst Metzger war inzwischen amerikanischer Staatsbürger geworden und lebte mit seiner Frau in Miami Beach. Früher wohnte er bei seinen Eltern Julius und Sara Metzger, geborene Lebenstein, zuerst in der Lippetraße 58, später am Hochstadenwall und ab 1939 bis Januar 1942 zwangsweise im jüdischen Gemeindehaus in der Wiesenstraße. Von dort wurden er und seine Eltern nach Riga deportiert und weiter ins Konzentrationslager Auschwitz. Ernst Metzger durchlebte und durchlitt Getto, Konzentrationslager und den Todesmarsch zurück nach Deutschland. Nach seiner Befreiung wanderte er über Schweden in die USA aus, wo er Bleibe, Arbeit und Heimat fand. Die Jahre vergingen, die schrecklichen Träume blieben. Er lebte mit der Erinnerung, aber sie vergiftete ihn nicht. Er wollte Dorsten noch einmal sehen. So flog er mit seiner Frau Cäcilia, die ebenfalls Auschwitz überlebt hatte, 1983 nach Dorsten. Seine Frau kannte Deutschland nur durch ihre Sicht aus Viehwaggons und von Deutschen kannte sie nur Schaftstiefel, Hundepeitschen und laute Kommandos.

Dorsten als Heimat ging ihm verloren – endgültig bei seinem Besuch 1983

Ernst Metzger (M) zu Besuch; zwischen Wolf Stegemann (li.) und Dirk Hartwich

Dorsten war nicht mehr Ernst Metzgers Heimat, sie wurde ihm spätestens 1942 ausgetrieben. Sein Besuch war von dem Wunsch getragen, ihm nach so vielen Jahren die innere Unruhe zu nehmen. Sein Besuch galt auch der Erinnerung, seiner Erinnerung, nicht der jener Bürger, die ihn mit der Frage „Ernst, weißt du noch?“ aus der Vergessenheit holten. Als er das Flugzeug in Düsseldorf betrat, das ihn zurück nach Miami brachte, hatte er die Unruhe bereits hinter sich gelassen. Nach seiner Ankunft bedankte er sich bei allen für die freundliche Aufnahme in Dorsten. Wolf Stegemann schrieb er einen sehr persönlichen Brief, in dem er um Verständnis bat, den Kontakt zu seiner alten Heimat abbrechen zu müssen. „Meine Frau und ich halten die Erinnerung nicht aus!“ – Ernst Metzger blieb ein Vertriebener. Er starb 1998 in Miami Beach. Aus Ernst Metzgers mitgeteilten Erinnerungen, erzählt der Verfasser dessen Geschichte nach:

Menschen dürfen nie vergessen, wozu Menschen fähig sind

Ernst Metzger 1938 und 1983 (r.) in Dorsten

Am Samstagmorgen, 23. Januar 1942, es war bitterkalt, hielt ein Wagen in der Nähe unse­res Hauses in der Wiesenstraße 24, um uns unerwartet zur Deportation nach Riga abzu­holen. Nach langen Bitten wurde uns eine halbe Stunde gewährt, um unsere Sachen zu packen. Im Lastwagen saßen schon unsere Leidensgenossen aus Lembeck. Nach knapp einer halben Stunde, wir waren noch nicht ganz fertig, trieb man uns aus dem Haus: Vater, Mutter, mein Bruder Max mit Frau und Kind, mein Bruder Walter und ich. Dazu kamen noch die Familie Ambrunn, Herr Lewinstein, Hilde Perlstein und Her­tha Becker, geborene Perlstein. Man brachte uns nach Gelsenkirchen. In der Rundhalle auf dem Wildenbruchplatz sam­melten die Nazis weitere Juden aus Reck­linghausen, Herne und Gelsenkirchen. Dort gab es die erste Tote zu beklagen. Selbstmord. Eine Frau hatte sich mit einer Gabel die Kehle durchgestochen. Erst am Dienstag, 26. Januar, sind wir morgens um drei Uhr im Güterbahnhof Gelsenkirchen verladen worden. Der Transport bestand aus etwa 1.000 Personen, die einer ungewissen Zukunft entgegenfuhren. Bei 30 Grad unter Null in unbeheizten Wagen, ohne Wasser und sonstige Verpflegung war die Fahrt eine Hölle. Doch haben wir die Reise überstanden bis auf meinen lieben Vater. Er hatte sich Erfrierungen an beiden Füßen zugezogen und musste im Getto drei Monate lang lie­gen.

Auf Tischen stand noch das Essen der Ermordeten

In Riga angekommen, wurden wir von deut­scher und lettischer SS mit Gewehrkolbenschlägen und Fußtritten aus den Wagen geprügelt. Die SS nahm uns das Gepäck weg. Viele Menschen, die wegen der über­menschlichen Strapazen nicht mehr laufen konnten, sind nie im Lager angekommen. Doch die, die trotz der Erfrierungen noch gehen konnten, zu ihnen gehörte auch ich, kamen nach einem halbstündigen Marsch im Getto an. Hier trafen wir auch Onkel Moritz, Tante Selma und Eva sowie meine Kusine Martha. Das Bild, das sich uns bot, kann ich nicht wiedergeben. Denn einige Tage vor dem ersten Transport hatte man die 40.000 letti­schen Juden innerhalb von zwei Tagen auf 4.000 reduziert. Überall war Blut. Teilweise wurden die Menschen in lodernde Flammen geworfen, kleine Kinder spießte man auf oder warf sie hoch in die Luft, um nach ihnen zu schießen.

So kamen wir in völlig demolierte Wohnun­gen der soeben von der SS ermordeten Menschen. Auf den Tischen stand noch gekoch­tes Essen. Ein Zeichen, dass der Tod plötzlich und unerwartet kam. Das schockte uns und wir hatten Angst. Im Getto lebten 10.000 deutsche und 4.000 lettische Juden. Geleitet wurde das Lager von SS-Obersturmführer Krause und Scharführer Gimmlich. Die Hauptleitung hatte ein SS-Major Dr. Lange. Der letzte Trans­port der Juden aus dem „Altreich“ kam aus Berlin. Es war grauenhaft. Es handelte sich vornehmlich um Menschen aus Altershei­men – Kranke und Gebrechliche. Viele von ihnen waren wahnsinnig geworden, denn sie wurden bei großer Kälte in offenen Viehwa­gen transportiert.

Die Mehrzahl aller Menschen, die am Bahn­hof ankamen, wurde gleich weiter verfrach­tet in das nahe Vernichtungslager Sasaplis, der Rest ins Getto getrieben, wo wiederum zahlreiche Gettobewohner an Hunger und Kälte starben. Die arbeitsfähigen Juden mussten in SS- oder Wehrmachtsbetrieben arbeiten. Bei 30 bis 40 Grad Kälte war Schneeschippen an der Tagesordnung, wobei sich die meisten Leidensgenossen Erfrierungen zuzogen, die zu Amputationen führten. Wir waren gezwungen, Sachen, die wir in den Häusern der vor uns Ermordeten vorfanden, gegen Brot einzutauschen. Darauf stand die Todesstrafe, doch der Hunger war stärker als die Angst.

Woch wir wuch waren, wir hatten stets den Tod vor Augen

Auschwitz heute

Unsere Wertsachen mussten wir bei der Ankunft abgeben. Täglich wurden Menschen erschossen und gehängt, oft grundlos oder weil sie ein Stück Brot eintauschen wollten. Es ging ganz nach Laune des Kom­mandanten. Langsam gewöhnten wir uns daran, den Tod vor Augen zu haben. Nachts brachen SS-Leute in unsere Wohnungen ein und vergewaltigten jüdische Mädchen und Frauen und beraubten sie ihrer Kleidung. Am 19. Februar 1942 kam ich mit 34 Kame­raden ins Zentralgefängnis von Riga. Jeden Tag wurden wir vom Scharführer Greulich in den acht Kilometer entfernten Hochwald gebracht, um Massengräber zu schaufeln. In jedes der 20 Gräber kamen etwa 500 Tote. Alle Trans­porte, die jetzt aus dem Reich kamen, gin­gen direkt in den Hochwald. Nur wenige junge und kräftige Menschen oder Hand­werker durften weiterleben. Ich wog nur noch 42 Kilo. Im Berliner Transport war auch mein Vetter Kurt, der mit weiteren 36 Juden für die SS im Kaiserwald arbeiten musste.

Meine Eltern kamen in die Gaskammern von Auschwitz

Auschwitz

Ende 1943 erließ Himmler den Befehl, alle Gettos aufzulösen. Am 2. November trieb uns die SS auf den Appellplatz, wo man Alte, Kranke und Kinder aussortierte und zum Bahnhof brachte. In Viehwagen wur­den sie in unmenschlicher Weise verladen und ins Ungewisse abtransportiert. Aber was ist, was bedeutet in solchen Situationen noch Menschlichkeit, Unmenschlichkeit? 2.600 Menschen, darunter meine lieben Eltern, fuhren in den Tod. Einigen Müttern war es gelungen, ihre Kin­der zu verstecken. Auch unsere kleine Judis, die Tochter meines Bruders, konnten wir noch einmal retten. Doch bald holte die SS alle Kinder unter zehn Jahren ab, um sie in die Gaskammern nach Auschwitz zu trans­portieren. Alle Juden, die bei Auflösung des Gettos noch lebten, wurden kaserniert bei der SS oder Wehrmacht untergebracht, um im deutschen Wehrmachts-Bekleidungsamt Schwerstarbeit zu leisten. Auch Frauen mussten dort schwere Lasten schleppen. Die Nahrung war schlecht und unzureichend. Obwohl mein Bruder, seine Frau und ich bei der Wehrmacht arbeiteten, waren wir allen erdenklichen Schikanen ausgesetzt. Wir lebten in ständiger Unruhe, denn mit der immer näher rückenden Front wuchs für uns die Lebensgefahr. Was machen sie dann mit uns?
Am 28. Juli 1944 kam beim Appell der SS-Arzt Dr. Krebsbach aus dem Zentral-Konzentrationslager Kaiserwald. Er suchte die Schwachen aus, zum Beispiel die, die sich beim schweren Heben Leistenbrüche zuge­zogen hatten. Mein Arbeitskamerad, mit dem ich täglich zusammen war, musste rechts raustreten. Das hieß: Transport ins Vernichtungslager.

Todesmarsch, Zeichnung

Am 8. Juli 1944 hatte man auch allen Frauen die Köpfe kahl geschoren. Mehrere Transporte gingen in der Folgezeit ins KZ Stutthof bei Danzig ab. Darunter war auch meine Schwägerin. Nun war ich mit meinem Bruder Max allein von der Familie übrig. Mit mir blieben von den Tausenden nur noch 100 Frauen und 100 Männer zurück. Wir mussten die blutigen, verlausten und ver­schlissenen Uniformen, die von der Front geschickt wurden, säubern, entlausen, aus­bessern, damit sie wieder zur Front zurück­geschickt werden konnten. Als sich wenige Tage später die Russen Riga näherten, verlegte man uns nach Libau. Hier erlebten wir schwerste Fliegerangriffe. In unseren Reihen gab es 14 Tote. Die Ver­schiffung nach Lübeck war eingeleitet. Acht Tage waren wir in ständiger Minen- und Flie­gergefahr in einem Kohlefrachter auf leeren Kartuschen und Munitionskisten auf hoher See.
Ein Funkspruch lenkte uns nach Hamburg um, wo wir am 27. Februar 1945 ankamen und sofort von der SS ins Polizeigefängnis geführt wurden. Nach etwa vier Wochen ging der erste Transport mit 56 Gefangenen nach Bergen-Belsen ab. Als auch ich weg­kommen sollte, wurde der Transport wegen Platzmangel im dortigen Konzentrationsla­ger nicht durchgeführt. Zu Fuß mussten wir dann 100 Kilometer nach Kiel zurücklegen. Hier standen wir unter der Knute der deutschen und lettischen SS. Der Kommandant empfing uns mit den Worten: „Na, ihr Synagogendiener, auf euch habe ich gerade noch gewartet!“

Von 14.000 Juden haben 135 überlebt – ich war dabei

Dorstens Bürgmeister Hans Lampen empfängt das Ehepaar Metzger im Rathaus

Ich kann es nicht schildern, was sich in die­sem Lager abspielte. Die Behandlung, die Hygiene und die Arbeit waren schrecklich und grausam. Morgens um vier Uhr mussten wir bei Regen und Kälte zum Appell. Waschgelegenheiten gab es keine. Nach lan­gem Stehen bekamen wir lediglich zwei dünne Schei­ben Brot. Dann wurden wir unter Bewachung zum Schutträumen in der Stadt eingesetzt. Völlig durchnässt gelangten wir nach zweistündigem Marsch ins Lager zurück. Wieder zwei- bis dreistündiger Appell mit Schlägen. Zu essen gab es Steck­rüben oder rote Bete in Wasser gekocht. Täglich hat die SS 30 bis 40 Männer erschos­sen oder mit Knüppeln oder Gewehrkolben einfach erschlagen. Über dieses Lager ließe sich viel berichten. Ständig schwebten wir in Todesgefahr. Wir hatten keine einzige Minute Ruhe vor dieser Angst. Bis zuletzt glaubten wir, noch erledigt zu werden. Als dann die SS vor den anrückenden Briten verschwunden war und wir die Autos des schwedischen Roten Kreu­zes sahen, glaubten wir es zuerst gar nicht. Es war wie eine Fata Morgana. Denn an Ret­tung glaubten wir schon lange nicht mehr. Jetzt glaubten wir an Wunder. Wir hatten überlebt.

Mein ganzes Leben hindurch werde ich nie vergessen, wie wir 135 Juden, die noch aus dem Getto von Riga von 14.000 übrig geblieben waren, die Hölle der deutschen Konzentrationslager überleben konnten. Und so wie ich meine Erlebnisse nicht ver­gessen kann, dürfen die Menschen und die Jugend nicht vergessen, wozu Menschen fähig sind.

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Mehr zu diesem Thema ist in der online-Dokumentation www.dorsten-unterm-hakenkreuz.de zu lesen

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Ein Kommentar zu Internationaler Auschwitz-Gedenktag: Der Dorstener Ernst Metzger hat die Hölle von Auschwitz überlebt – 1983 besuchte er seine Heimatstadt, der er sich nicht mehr annähern konnte

  1. M.Köster sagt:

    Dieser eindringliche tieftraurige Bericht lässt mich, die ich diese schreckliche Zeit nicht erleben musste, erstarren. Unverständnis, wozu der Mensch in der Lage ist. Und Angst, dass so etwas sich wiederholt. Wir müssen immer wieder daran erinnert werden, wie schrecklich schnell es ganz anders sein kann als es momentan (noch) ist – friedlich. Wir sind alle Menschen – keiner ist besser oder schlechter als der andere. „Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst.“, die Goldene Regel sollte sich tief in Herz und Verstand eingravieren.
    Danke, Herr Stegemann, für diesen außerordentlichen Bericht.

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