Postfaktisch – Was der Stadtkämmerer im Rat über das Haushaltsergebnis 2015 erzählt. Es sind sich widersprechende „Wahrheiten“. Doch welche stimmt?

Betrachtungen zum Wert eines Amtseids – von Helmut Frenzel

2. Dezember 2016. – Derzeit macht der Begriff postfaktisch Karriere. Populär wurde er im Zusammenhang mit dem Referendum in Großbritannien über den Brexit. Von post-truth politics war da die Rede und gemeint waren die Populisten, die ohne Rücksicht auf Fakten und Wahrheiten ihre politischen Ziele im Wahlkampf verfolgten. Aber es sind keineswegs nur die Populisten, die postfaktisch argumentieren. Dass den Bürgern Fakten und Wahrheiten bewusst verschwiegen werden gibt es auch im kommunalen Milieu. Ein Beispiel aus Dorsten.

2015 erstmals ein Haushaltsüberschuss?

Am 16. September 2015 brachte der Stadtkämmerer Hubert Große-Ruiken den Haushalt 2016 in den Rat der Stadt ein. Bevor er das Zahlenwerk erläuterte, gab er einen Überblick über die Entwicklung im laufenden Haushaltsjahr 2015 und was er sagte klang erfreulich:

„Im Haushaltsplan 2015 haben wir einen Fehlbedarf von 3,2 Mio. € eingeplant, in dem Bericht zum 30.06.2015 kommt die Hochrechnung zum 31.12.2015 auf ein Ergebnis von 1,8 Mio. €. Und das trotz der Mehraufwendungen! Und ich kann Ihnen heute auch die gute Botschaft bringen, dass wir glauben, dass es am Ende noch ein bisschen besser sein wird.“

Eine gute Nachricht für die Bürger. Ein Haushaltsüberschuss von zwei Millionen Euro – wann hat es den in Dorsten zuletzt gegeben? Das ist es, was die Bürger hören wollen, denen mit der Haushaltssanierung hohe Belastungen zugemutet werden. Aber jetzt sehen sie: die Verwaltung ist mit ihren Maßnahmen auf dem richtigen Weg. Alles wird gut. Warum sollte jemand an der Richtigkeit dieser Darstellung zweifeln? Immerhin hat der Stadtkämmerer einen Amtseid geleistet, der ihn zur Wahrheit verpflichtet, und Hubert Große-Ruiken findet es gar nicht gut, wenn jemand seine Wahrheitstreue in Zweifel zieht.

Prognose des Kämmerers blendet Währungsverlust aus

Und doch: Den vom Kämmerer angekündigten Überschuss von zwei Millionen Euro gibt es nicht, das Gegenteil davon ist der Fall. Das Haushaltsjahr wird trotz aller finanzieller Zumutungen für die Bürger mit einem hohen Fehlbetrag abschließen. Der Grund dafür ist der Währungsverlust, den die Stadt infolge einer starken Aufwertung des Schweizer Franken zu erwarten hat. Die Stadt hält Kassenkredite von 124,7 Millionen Schweizer Franken. Mit jeder Aufwertung des Franken erhöhen sich die Rückzahlungsverpflichtungen und es entsteht ein Verlust. Als der Kämmerer seine Ergebnisprognose bekannt gab, betrug die Aufwertung gegenüber dem Jahresbeginn zehn Prozent. Für die Stadt bedeutete das an diesem 16. September 2015 – es ist übrigens der Tag, an dem der Rat über das Bürgerbegehren zum Fortbestand der Wichernschule beriet – einen Währungsverlust von 11 Millionen Euro. Am Jahresende 2016 werden es 12,5 Millionen sein. Nach 2010 ist es der zweite Währungsverlust in zweistelliger Millionenhöhe.
Der Kämmerer aber, der einen Amtseid abgelegt hat, der ihn zur Wahrheit verpflichtet, stellte sich vor das Plenum des Rates und erzählte von einem Haushaltsüberschuss und tat das in dem sicheren Wissen, dass es den Überschuss nicht geben wird. Er schränkte auch seine Prognose nicht ein, relativierte sie nicht, indem er auf Risiken hinwies. Das war postfaktisch oder, wer das lieber mag, post-truth – jenseits der Wahrheit.
Die Sache hat allerdings einen Haken. Der Währungsverlust wird sich im Jahresabschluss 2015 wiederfinden, den der Stadtkämmerer aufstellen muss. Unterm Strich wird ein hoher Verlust stehen und dann fliegt der Schummel auf. Worauf hoffte der Kämmerer? Dass die Menschen vergesslich sind?

Verwirrung um das vorläufige Ergebnis 2015

Die Zeit vergeht. Ein Jahr später, am 14. September 2016, stand die Einbringung des Haushalts 2017 auf der Tagesordnung des Rates. Zum Verlauf des Haushaltsjahres 2015, das da lange schon abgeschlossen ist, sagte der Stadtkämmerer dieses Mal nichts. Die gesuchte Information findet man an anderer Stelle. Der Haushaltsentwurf 2017 enthält auch das vorläufige Ergebnis des vorangegangenen Haushaltsjahres, von 2015 also. Und dieses schließt mit einem Überschuss von 2,4 Millionen Euro ab, besser noch als die Prognose des Kämmerers von vor einem Jahr. Wer hätte das gedacht! Aber wie sollte das trotz des hohen Währungsverlustes möglich sein? Es gibt keine Wunder, jedenfalls nicht im Haushalt einer Stadt. Wo war der Währungsverlust geblieben?
Man nimmt sich die Haushaltsrede des Stadtkämmerers vor, um dort Erklärungen für die wundersame Geldvermehrung zu finden. Und man wird fündig. Bevor Hubert Große-Ruiken sich dem Haushaltsentwurf 2017 zuwandte, sprach er über den dramatischen Eigenkapitalverzehr seit 2009 infolge der hohen jährlichen Verluste und hob hervor, dass die Fehlbeträge sich seit Beginn der von der Landesregierung erzwungenen Haushaltssanierung reduziert hätten, auch wenn das die in 2014 eingetretene Überschuldung der Stadt nicht verhindert habe. Und dann dieser Satz, nur dieser eine Satz:

 „2015 haben wir ein weiteres schlechtes Ergebnis eingefahren, aber nur deshalb, weil die Schweizerische Nationalbank den Kurs des Franken freigegeben hat.“

Also doch, da ist er, der Währungsverlust. Zu dessen Höhe und dazu, wie schlecht das schlechte Ergebnis 2015 ausgefallen ist: kein Wort. War das schon die ganze Wahrheit zum Ergebnis 2015? Ist es nur ein bisschen schlecht, ist es gar sehr schlecht oder einfach nur schlecht? Wen interessieren schon solche Nebensächlichkeiten? Auch das Wort Währungsverlust nimmt der Kämmerer nicht in den Mund. Stattdessen präsentiert er gleich den Schuldigen: die Schweizer Nationalbank. Wenn Jemand in der Spielbank Geld verliert, ist die Spielbank schuld. Das kennt man. Doch die Verwirrung, die der Kämmerer mit diesem einen Satz stiftet, ist komplett. Was stimmt denn nun? Ein schlechtes Ergebnis, wie der Kämmerer in seiner Haushaltsrede sagte, oder ein Überschuss, so wie er im vorläufigen Ergebnis 2015 ausgewiesen wird? Wie viele Wahrheiten gibt es zum Jahresergebnis 2015? Wie viele Wahrheiten verträgt die Informationspolitik eines Stadtkämmerers?

Bizarr: Wie man durch Weglassen einen Haushaltsüberschuss erreicht

Als der Kämmerer am 14. September 2016 seine Rede zum Haushaltsentwurf 2017 hielt, war der Währungsverlust 2015 der Höhe nach bekannt, im vorläufigen Ergebnis ist er mit 12,5 Millionen Euro enthalten. Aber wie kann das vorläufige Ergebnis unter Berücksichtigung des hohen Währungsverlustes mit einem Überschuss von 2,4 Millionen Euro abschließen? Dafür gibt es eine ebenso einfache wie bizarre Erklärung: in der vorläufigen Ergebnisrechnung sind die jährlichen Abschreibungen bis auf einen geringen Betrag nicht berücksichtigt. Die Abschreibungen lassen sich näherungsweise schätzen und daraus ergibt sich, dass im vorläufigen Ergebnis Aufwendungen in Höhe von knapp 16 Millionen Euro fehlen. Berücksichtigt man diesen Betrag, dann wird aus dem ausgewiesenen vorläufigen Ergebnis von 2,4 Millionen Euro ein Verlust von über 13 Millionen Euro – sofern sich nicht noch andere wesentliche Änderungen ergeben. Der staunende Bürger bekommt so eine Vorstellung davon, wie schlecht das Ergebnis ist, das die Stadt in 2015 eingefahren hat. Mit dem vom Kämmerer vor einem Jahr prognostizierten Überschuss hat es nichts mehr zu tun.
Dass der Stadtkämmerer eine Ergebnisprognose abgibt und ein vorläufiges Ergebnis 2015 veröffentlicht, die beide so massiv vom unweigerlich zu erwartenden Bilanzverlust abweichen, ist kein Versehen. Ein Finanzchef kennt seine Jahresergebnisse. Es ist Absicht. Man will den Währungsverlust nicht thematisieren und der unangenehmen Frage aus dem Weg gehen, wer dafür  verantwortlich ist. Dieses Verhalten der Verantwortlichen ist nicht neu. Schon der Vorgänger im Amt des Stadtkämmerers, Wolfgang Quallo, praktizierte es erfolgreich. Der Währungsverlust im Haushaltsjahr 2010 von 13,4 Millionen Euro kam in seiner letzten Haushaltsrede nicht vor und auch im Plenum des Rates ist er nie zur Sprache gekommen. So hält es auch sein Nachfolger Hubert Große-Ruiken. Nur nicht von dem Währungsverlust reden, dann gibt es ihn auch nicht.

Den Währungsverlust von den Bürgern fernhalten

Aktuell wird viel über die Populisten und ihre Rattenfängermethoden geklagt und darüber, wie sie die Wähler mit ihrer postfaktischen Argumentation täuschten. Wahrheiten und Fakten, die nicht ins gewünschte Weltbild passen, werden ausgeblendet oder negiert. Auf dieser Linie bewegt sich der Stadtkämmerer nicht erst jetzt. Er erzählt den Bürgern und ihren Vertretern im Rat von den schönen Erfolgen der Verwaltung bei der Sanierung des Haushalts und verschweigt, dass ein Währungsverlust in Millionenhöhe das erwartete Ergebnis ins Gegenteil verkehren wird. Und warum verschweigt er das? Weil diesen Verlust niemand anderes als der Stadtkämmerer und der Bürgermeister und ihre Vorgänger im Amt mit ihren riskanten Spekulationsgeschäften zu verantworten haben. Das einzugestehen würde natürlich das Bild von der tüchtigen Verwaltung stark beeinträchtigen. Da ist es klüger, man verschweigt die Sache. Postfaktisch eben.

Was unterscheidet einen Stadtkämmerer von einem Populisten?

Es gibt allerdings einen Unterschied zwischen den viel geschmähten Populisten und dem Stadtkämmerer. Der Stadtkämmerer Hubert Große-Ruiken hat einen Amtseid abgelegt, der ihn zur Wahrheit verpflichtet. Und nicht nur das. Er wird auch von den Bürgern bezahlt, deren „Angestellter“ er ist und als deren Sachwalter er sich verstehen sollte. Auch das müsste ihm Verpflichtung sein, den Bürgern und ihren gewählten Vertretern reinen Wein einzuschenken – auch wenn es um unangenehme Wahrheiten geht. Davon ist der Kämmerer meilenweit entfernt, der sich, wenn es ernst wird, Schutz suchend auf seinen Amtseid beruft und Vertrauen beansprucht. Für die Währungsverluste, die sich bisher bei den Schweizer Franken-Krediten ohne die Verluste bei den Swap-Geschäften auf 30 Millionen Euro belaufen, tragen Stadtkämmerer und Bürgermeister die alleinige Verantwortung. Darüber redet man nicht gerne. Das könnte bei den Bürgern, die mit hohen Steuern und Abgaben zur Haushaltssanierung herangezogen werden, Ärger oder sogar Wut hervorrufen. Da ist es doch allemal besser, man redet über die Verluste erst gar nicht. Wie lange wollen sich die Dorstener Bürger die Informationspolitik ihres „Angestellten“ noch gefallen lassen? Die Mitglieder des Rates bleiben wie gewohnt stumm.

Wiederaufführung eines erprobten Schauspiels

Und wie geht das nun mit dem Verlust 2015 weiter? Eine Prognose sei gewagt: Das Ergebnis 2015 wird im öffentlichen Raum nicht mehr zur Sprache kommen. Irgendwann wird dem Rat der Jahresabschluss 2015 vorgelegt, ein Dokument von mehreren hundert Seiten. In ihrer  Beschlussvorlage wird die Verwaltung auf einer halben Seite und ohne Nennung des Bilanzergebnisses die Verabschiedung des Jahresabschlusses 2015 und die Entlastung des Bürgermeisters für das Haushaltsjahr 2015 vorschlagen. Hat Jemand eine Frage? Das ist nicht der Fall. Dann können wir über den Beschlussvorschlag abstimmen. Wer ist dafür, wer dagegen, wer enthält sich der Stimme? Einstimmig angenommen. Na also. Geht doch. So wie beim Währungsverlust von 2010.  Dieser belief sich auf 13,4 Millionen Euro und der Bilanzverlust auf 40 Millionen Euro.

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