Etwas schräge Gedanken eines deutschen Weihnachtsbaums

18. Dezember 2015. – Jetzt kommen meine großen Tage. Ich, der Christbaum, stehe entweder in der Mitte oder in einer Nische des Zimmers, manchmal auf dem Boden, manchmal auf einem kleinen Tischchen. Die ganze Familie ist um mich versammelt. Der Gabentisch ist wie immer reich gedeckt. Schade ist es, dass in vielen anderen Familien immer mehr die Weihnachtskrippe fehlt. Oder auch ich. Ich freue mich, dass sie in diesem Jahr wieder unter meinen Zweigen aufgebaut ist. Denn sie ist viel wichtiger als ich.

Von der deutschen Weihnacht bin ich nicht wegzudenken. Am wohlsten fühle ich mich in den Häusern. Ich lasse mich aber auch auf Straßen und Plätze stellen, wenn es nicht manchmal schon Anfang Dezember sein müsste. Auch dass man mich in den Geschäften und Schaufenstern zur Werbung missbraucht, gefällt mir weniger. Und überhaupt gefällt mir nicht, dass beispielsweise in der mittelalterlichen Stadt Rothenburg ob der Tauber das ganze Jahr über Weihnachten ist und die Kollegen aus Plastik sich im Sommer zu Weihnachtsliedern drehen müssen, um von Japanern, die überhaupt nichts von Weihnachten verstehen, gekauft oder fotografiert zu werden.

In natura bin ich nicht ganz billig zu haben, je nach Größe und Art, ob Tanne oder Edeltanne, Fichte, Kiefer oder Latschenbaum, ob ich schön gewachsen bin oder krumm. Das ist bei uns Weihnachtsbäumen halt auch nicht anders als bei den Menschen. Zugegebenermaßen bin ich nicht allzu reinlich. Manchmal werde ich harzig, fast immer dürr und trocken und verliere meine Nadeln. Bei Menschen ist es ja ähnlich. Leicht kann ich Feuer fangen und oft genug sehe ich in den Fernseh-Nachrichten, dass wieder mal da und dort wegen unsachgemäßer oder leichtsinniger Behandlung Haus und Wohnung abbrannten. Trotzdem sind mir echte Kerzen aus Wachs doch lieber als elektrische. Sie geben ein wohligeres Licht ab.

Meine Geschichte ist nicht alt. In Straßburg hat man mich 1539 erstmals entdeckt. Seit zweihundert Jahren bin ich in Deutschland zu Hause. Caroline, die evangelische Königin, brachte mich einst aus ihrer badischen Heimat nach Bayern und der Landrat Schütz im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts ins Vest Recklinghausen. *

Doch reichen meine Wurzel tiefer, sehr tief sogar. Im Paradies, so erzählt uns die Bibel, stand in der Mitte ein Baum, der Baum des Lebens und der Erkenntnis des Gutes und Bösen. Er stand für Gott. Er sollte die Mitte sein. Um ihn sollte sich alles drehen. Adam und Eva haben diese Mitte verloren. Sie wollten sich selbst in den Mittelpunkt rücken. So haben sie Gott und das Paradies verloren, sagt die Bibel. Die Tore sind zu. Angel und Siegmar haben sie offensichtlich wieder gefunden, in der sie sich jetzt drängeln. Aber diese Mitte ist eine andere. Sie ist irdisch und politisch.

„Heut schleußt er wieder auf die Tür zum schönen Paradeis“, heißt es in einem Lied und Gott lässt sich wieder finden bei dem Kind in der Krippe unter meinen Zweigen. Das Kind soll die neue Mitte sein, was jetzt nicht politisch gemeint ist. Der Baum des Paradieses ist wieder zugänglich. Dafür stehe ich gerade, auch wenn ich manchmal krüppelig gewachsen bin.

Auch mein Schmuck hat etwas zu sagen. Äpfel hängen an meinen Ästen, wenn sie auch aus Plastik sind. Die verbotene Frucht, von den Stammeltern im Paradies gepflückt, ist wieder am Baum. Nüsse trage ich, mit harter Schale und weichem Kern. Das Kind, in Windeln gewickelt und in einer harten Krippe liegend, ist des Christfests Kern. Die glitzernden Kugeln erzählen von dem Gold, das die Weisen vom Morgenland brachten. Meine Kerzen erleuchten das Dunkel von Angst, Not und Tod.

„Ich will sein wie eine grünende Tanne“, so vergleicht sich Gott mit mir. Wo alles erstorben scheint, trage ich noch grün, weil neues Leben erschienen ist, „mitten im kalten Winter, wohl zu der halben Nacht“. Kalter Winter? Muss wohl in diesem Jahr ein Irrtum sein! Ein Engel oder ein Stern schmückt meine Spitze; mich verjüngend weise ich nach oben zum Himmel, zum Paradies. Etwas Himmel auf Erden soll werden, nicht nur in der Familie, nicht nur am Heiligen Abend, sondern so viele Tage, wie das Jahr hat.

Ein frohes Fest
wünscht der
Weihnachtsbaum

*) Bitte anklicken: Des herzoglich-arenbergischen Oberbeamten Landschütz’ Frau Franzisca schmückte den ersten Weihnachtsbaum im Vest Recklinghausen

Dieser Beitrag wurde unter Feste und Feiern abgelegt und mit , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Ein Kommentar zu Etwas schräge Gedanken eines deutschen Weihnachtsbaums

  1. Eva sagt:

    Der hat wohl ein bisschen zu tief ins Glühweinglas geschaut, der gute liebe Weihnachtsbaum. Ihm und allen anderen lieben Menschen ein frohes Fest wünscht die treue transparent-Leserin Eva.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert