Unter Dorsten leben dreimal so viele Ratten wie die Stadt Einwohner hat – in Paris zehnmal so viele

Von Wolf  Stegemann

Vor Tagen war auf der Panorama-Seite der WAZ zu lesen, dass im Urlauber-Paradies Mallorca ein kranker Obdachloser von Ratten totgebissen wurde. Erschreckend. Im letzten Jahr jährte sich zum 800. Mal der „Kinderkreuzzug“, bei dem im Jahre 1212 Tausend und Abertausend Kinder, Jugendliche und Erwachsene aus Deutschland und aus Frankreich unter der Leitung visionärer Knaben zu einem unbewaffneten Kreuzzug ins Heilige Land aufbrachen. Der Zug scheint sich bereits an den Ufern des italienischen Mittelmeers aufgelöst zu haben. Ob dieser Kinderkreuzzug der historische Kern der bekannten Rattenfänger-Saga von Hameln ist. Lässt sich nicht genau sagen, denn der Kreuzzug wurde erst Ende des 16. Jahrhunderts sekundär mit der Rattenvertreibungs-Sage verknüpft. Ratten galten stets als bösartige und Krankheiten übertragende Tiere, die von den Menschen vergiftet und erschlagen, aber auch für die nationalsozialistische antisemitische und menschenverachtende Propaganda missbraucht wurden.

Paris war „Hauptstadt der Ratten“ im Jahr 2011

Jedes Rattenpaar kann bis zu 5.000 Nachfolger zeugen. Davon berichten aktuell die Schädlingsbekämpfer in Paris. Die Stadt kann sich der Ratten kaum noch erwehren, die bereits im Elyséepalast des Staatspräsidenten gesichtet wurden. In Paris, so die offiziellen Schätzungen, kommen auf jeden Einwohner zehn Ratten (in Dorsten drei Ratten pro Einwohner). Uralte Ängste quellen aus Rinnsteinen und Kellerschächten – die Ratte als Vorbote von Katastrophen. „Am Morgen des 16. April trat der Arzt Bernard Rieux aus seiner Wohnung und stolperte mitten auf dem Flur über eine tote Ratte”, heißt es zu Beginn von Albert Camus’ berühmten Roman „Die Pest“. Die meisten Franzosen haben das Buch in der Schule gelesen. Das tut dem Ruf der Ratte auch nicht gut. Ende 2011 blies die Polizeipräfektur Paris wieder zu einer großen Rattenjagd.

240.000 Ratten unter der Stadt Dorsten

Man muss nicht weit gehen. Nicht nur am Gestrüpp des Westgrabens entlang oder zwischen Altstadt und Bahnhof oder an den Wegen der feuchten Gräben wie am Goldbrink, sondern auf „ganz normalen Wohnstraßen“, wo Verkehr ist und Hunde Gassi gehen, da rennen die graubraunen Nager. Geht man von der wissenschaftlichen Schätzung aus, dass es in Deutschland rund 240 Millionen Ratten gibt, dann huschen und schwimmen unter der Stadt Dorsten wohl 240.000 umher, über dreimal so viele, wie es Einwohner gibt. Immer häufiger lassen sich die Nager auch tagsüber sehen. Vor allem Müllcontainer hinter Supermärkten locken die Ratten an, ihre unterirdischen Kanalisationen zu verlassen.

Lassen sich zu viele Ratten tagsüber in Wohngebieten sehen, ist die Stadt gefordert, durch Gift oder sonstige Tötungen die Rattenplage zu beenden. Immer wieder taucht dieses Problem im Stadtgebiet Dorsten auf, aber auch in den Nobelvororten von Mailand (3 Millionen Ratten) oder Moskau. In Bradford/England hält jetzt wieder die ausgestorben geglaubte Rattenart „Ratzilla“ die Bewohner in Atem. Diese Rattenart bringt es auf eine Kopf-Rumpflänge von 70 cm. In Dorsten schrecken immer wieder Nachrichten auf, dass in diesem oder jenem Kindergarten Ratten durch die Toilette gekommen sind, in Mietshäusern in Barkenberg bis in das vierte oder noch höher gelegene Stockwerk.

1951 war in Dorsten der Atem von rund 1.000 Ratten sichtbar

Im November 1951 musste die Stadt Dorsten den „Rattenfänger“ Hans-Joachim van Loosen aus Dinslaken beauftragen, die Rattenplage an der damals an der Marler Straße bestehenden Müllkippe und den benachbarten Grundstücken zu beenden. Als der Stadtrat ihm den Auftrag zur Ratten-Bekämpfungsaktion erteilte, suchte er zunächst das „Hauptquartier“ der Ratten an der Marler Straße auf. Den erstaunten Verwaltungsvertretern zeigte van Loosen den sichtbaren Atem der über 1.000 Ratten. Denn bei kalter Witterung stieg der Atem der Ratten wie Rauch aus den Gängen, wie die „Dorstener Volkszeitung“ berichtete.

Dorsten und der Amtsbezirk Hervest-Dorsten war dem Schädlingsbekämpfer nicht unbekannt. Zuvor hatte er die Gemeinde Erle von ihrer Rattenplage befreit. Das ganze Dorf war von Ratten verseucht gewesen. Dutzendweise schlugen die Bauern die gefräßigen Nager tot. Oftmals wurde ohne Erfolg Gift ausgestreut. Nachdem der Schädlingsbekämpfer in Aktion getreten war und auf den Höfen bis zu 70 tote Ratten gezählt worden waren, war die Rattenplage in Erle beendet.

Ratten hatten paradiesische Zustände

Müll ist für Ratten das wahre Paradies

Auf der Müllkippe an der Marler Straße hatten die Ratten paradiesische Zustände. Mit Fleischabfällen, Geröll und Abfall wurden die Allesfresser geradezu gemästet. In jedem der unzähligen Rattengänge der Müllkippe lebten rund 150 Ratten. Vergiftetes Mehl, das innerhalb von zehn Minuten wirkte, wurde über die Müllhalde verstreut. Auch in Simsen und Ecken der Kanalisation wurde Gift ausgelegt, weil bekannt war, dass die Ratten bei ihrem Marsch durch das Kanalisationssystem so genannte Rastplätze einnehmen.

Die Rattenplage war innerhalb kürzester Zeit eingedämmt. Es war nicht die erste und auch nicht die letzte. Hans-Joachim van Loosen blieb Dorstens Rattenfänger rund 50 Jahre lang. Im Laufe dieser Zeit musste van Loosen den Ratten immer ein Stück vorweg sein, denn die Tiere gewöhnten sich mitunter an Giftköder oder gingen ihnen aus dem Weg. Noch 1996 entwickelte er einen Ködertyp und testete ihn auf Bauernhöfen. Mit Hilfe dieses neuen Giftködertyps konnten innerhalb eines Tages gleich 30 bis 40 Ratten getötet werden. Als sich Anleger der Straße „Holtstegge“ in Holsterhausen über eine zunehmende Rattenplage beschwerten, die Ratten kamen aus der Kanalisation, setzte van Loosen 1996 seinen  neuen Gifttyp ein und mit einem städtischen Entsorgungsfahrzeug wurde das Gift an mehreren Stellen in die Kanalisation verbracht.

Mitte 2011 waren Ratten in der Innenstadt erneut auf dem Vormarsch und hatten bereits durch den Bau von Höhlen Straßen und Bürgersteige untergraben, vor allem sichtbar in der Gordulagasse. Verantwortlich für die zunehmende Zahl der Nager sind vor allem aber die Bürger, die Speisereste durch ihre Toiletten spülen, statt sie in die Mülltonne zu werfen. Das zieht die Ratten an, denen in der Kanalisation das Fressen wie im Schlaraffenland ins Maul schwimmt.

Experten sind in Sorge

Zahlreiche Ratten sind inzwischen mutiert und resistent geworden gegen die alten Giftköder. Derzeit werden sie mit der einzigen Wirkstoffgruppe bekämpft. Mit Blutgerinnungshemmern, die sie langsam innerlich verbluten lassen, nach Tagen erst, weil die schlauen Tiere das Futter sonst verschmähen würden. Inzwischen sind von acht erprobten Rattenbekämpfungsmitteln fünf nicht mehr wirksam, sagt die Biologin Alexandra Esther, die am Julius-Kühn-Institut in Münster Resistenzen erforscht, Bislang hat sie die resistenten Tiere vor allem in Nordrhein-Westfalen lokalisiert. Sie geht davon aus, dass sie sich weiter verbreiten. Der Rattenbeauftragte in Hamburg, Achim Hoch, begegnet dort Ratten in der Größe von Kaninchen, die samt Schwanz einen halben Meter messen. Ratten sind wegen der Essensreste gerne bei den Menschen bzw. unter ihnen. Es gibt sie in Kindertagesstätten, weil dort oft Nudeln die Toilette hinuntergespült werden. Immer wo Ratten auf Essensreste stoßen, sehen die intelligenten Tiere nach, ob es an der Quelle dieser Essensreste noch mehr gibt. Aus der Kanalisation sind Ratten nicht mehr zu vertreiben. Aufgabe der modernen Rattenfänger ist es deshalb, zu verhindern, dass Ratten auf der Straße herumlaufen. Was tut man, wenn tatsächlich mal eine Ratte aus der Kloschüssel guckt? „Spülen“ sagt Achim Hoch, „spülen, bis sie wieder unten ist“ (SZ vom 3. Mai 2014).

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