Was macht eigentlich der Petrinum-Abiturient Peter Schneider? Er ist Schweizer geworden, Psychoanalytiker, Satiriker und Gesellschaftskritiker – auch schreibt er Bücher

Von Wolf Stegemann

Er gehört zu den Menschen, die Persönlichkeit haben und denen man ein gewisses Etwas zuspricht. Daher erinnert man sich viele Jahre, manchmal sogar Jahrzehnte an sie; zumindest aus der Warte der nicht aufregenden Stadt an der Lippe. Umgekehrt ist die Erinnerung derjenigen, die hinaus in die Welt gezogen sind, an diejenigen, die an der Lippe zurückgeblieben sind, auslöschbarer. So erinnert sich eine Mitarbeiterin der Ruhr-Nachrichten an ihn als jemanden, der sich abhob von den anderen, mit dem man auch mal gute Gespräche haben konnte. Die Rede ist von Privatdozent Dr. Peter Schneider,  Psychoanalytiker und Satiriker in Zürich, der in den 1970er-Jahren freier journalistischer Mitarbeiter der Ruhr-Nachrichten, heute Dorstener Zeitung, gewesen war.

Dem Schreiben ist er treu geblieben

Hier ist er 1957 geboren und auf das Gymnasium Petrinum gegangen, bis ihn das Studium und seine Karriere von Dorsten wegführten. Jetzt lebt er in der Schweiz. Die Schweizer sind ja bekannt für ihre Beständigkeit. Die zeigt auch der Wahl-Schweizer aus Zürich, Peter Schneider, denn er ist dem Schreiben treu geblieben. Als Kolumnist verschiedener Blätter hat er sich überregional einen Namen gemacht. Regelmäßig macht er sich als Satiriker öffentlich bemerkbar. Nach dem Auf und Ab seines bisherigen 55-jährigen Lebens gefragt, antwortete er erstmal mit der Einschränkung:

„Ich bin ein miserabler Historiker in eigener Sache, staune oft, wenn ich feststelle: das hab ich ja auch mal gemacht. Am meisten interessieren mich immer anstehende Projekte und das, woran ich gerade arbeite. Darum habe ich auch zu irgendwo bereits gemachten Aussagen immer ein zwiespältiges Verhältnis. Ich bin eine Art Foucaultscher Anti-Identitätist, wenn es so was gibt.“

Diskussionsteilnehmer zum Thema "Kirche ohne Leute", 2011

Günter Opitz war ein großartiger Lehrer

Peter Schneider studierte Germanistik, Philosophie und Psychologie in Bochum, Münster und ab 1983 in Zürich, schließt die Fächer Philosophie, Literaturwissenschaft, und Sozialpsychologie mit dem Magister ab, promovierte und habilitierte in Bremen in Psychologie. Als er von seiner Schulzeit sprach, kamen dann doch Erinnerungen. Er besuchte in Holsterhausen die Bonifatiushauptschule, dann das Gymnasium Petrinum, wo er 1976 das Abitur machte. Aus heutiger Sicht war für ihn Günter Opitz der „wichtigste“ Lehrer: „Ein großartiger Mann; gebildet, charmant, ironisch – er hat mich sicher sehr geprägt.“ Sport war Schneiders „Lieblingshassfach“. Zu seinen Schulfreunden gehörten u. a. Roland Huhn, Jürgen Haupt, Winfried Hegerring. Zusammen mit Gundolf Nieder hat Schneider auf Schulveranstaltungen kabarettistisch performt. Zu seinen früheren Schulfreunden besteht kein Kontakt mehr. Seine unerfüllte Schulliebe hieß Frauke E. „Höchstwahrscheinlich weiß die Glückliche bis heute nichts davon. Und ich will ihr auch nicht mit vierzigjähriger Verspätung zu nahe treten.“

Kinder- und Jugendjahre in der Altstadt, Feldmark und in Holsterhausen

In seinen Kinderjahren, die er in der Altstadt, in Holsterhausen und in der Feldmark verbrachte, war sein Großvater Alois Beste der wichtigste Mensch. Seine Mutter war während seiner Kindheit schwer krank. Daher wuchs er bei den Großeltern auf. Im Kindergarten gab er nur ein kurzes Gastspiel. Er fühlte sich dort nicht wohl. „So brachen meine Eltern das Experiment ab. Und während man heute Kinder vor den Fernseher setzt, saß ich früh vor dem Radio und habe Schulfunk gehört: Neues aus Waldhagen u. a. – wunderbare Geschichten.“

Der Vater war Elektriker auf der Zeche Fürst Leopold und „hat furchtbar viel gearbeitet“. Augenzwinkernd meint er, dass er seine Disziplin wohl von seinem Vater habe. „Zweimal habe ich in den Schulferien selber unter Tage gearbeitet. Das gehört zu meinen besten Jugenderinnerungen.“ Die Mutter lebte schon länger in Dorsten, übrigens im Bahnhofsgebäude, bevor seine Eltern sich kennen lernten. Sie starb im Jahr 2000, der Vater lebt 81-jährig noch in Dorsten.

Peter Schneider hat aber nicht nur vor dem Radio gesessen. „Ich habe gelesen wie ein Verrückter“, sagt der Psychoanalytiker. Zuerst Enid Blyton, später Tucholsky, Schiller und ähnliche, alles was ihm „nach Bildung aussah“, dann Freud und immer wieder Enid Blyton. Mit dem Chemiekasten dokterte der Schüler bis zu seinem zwölften Jahr herum, tauschte später den Chemiekasten mit dem Herumhängen auf Partys aus, konsumierte munter Alkoholisches, was Schüler nun mal so machen, griff aber erst mit 25 Jahren erstmals zur Zigarette. Längst hat er die aber auch schon gegen stärkeren Tobak eingetauscht: „Drei Zigarren am Tag sind es mindestens.“

Was wollte der Gymnasiast Peter Schneider beruflich werden? Im Fragebogen, den er kurz vor dem Abitur ausfüllen sollte, hatte er doch tatsächlich „Journalist und Psychoanalytiker“ als Berufswunsch geschrieben. Wenn er, wie bereits angemerkt, dem Schreiben treu geblieben ist, dem Tagesjournalismus nicht, wohl aber der Satire und Gesellschaftsanalyse.

Politik und Gesellschaft mit der Feder aufgespießt  

In Zürich betreibt Peter Schneider seit 1988 eine eigene Praxis als Psychoanalytiker. 2004 wurde er habilitiert und lehrt an den Universitäten Zürich und Bremen Psychoanalyse. Einem breiten Publikum ist er als Autor und Sprecher beim Schweizer Radiosender SRF 3 (täglich in „Die andere Presseschau“) bekannt. Daneben erscheinen in etlichen Schweizer Zeitungen wöchentliche Kolumnen von Peter Schneider, u. a. in der „Sonntags-Zeitung“ und „Leser Fragen, Peter Schneider antwortet“ im Tages-Anzeiger. Seine Themen sind stets aktuell und haben eine breite Palette: Mal spricht er im Rundfunk oder schreibt über Moral und Politik (TV-Kulturplatz), Schuld und Schulden (Tages-Anzeiger), Jugend und Gewalt (Swissinfo), über die Bildungsfeindschaft der Gesellschaft (TA), gegen Denk- und Redemüll (Interview) und „Ob es wirklich so schlimm steht mit unserer Jugend“ (Tages-Anzeiger), um einige Beispiele zu nennen.

Im Jahre 2008 erhielt PD Dr. Peter Schneider den Preis des Schweizerischen Berufsverbandes für Angewandte Psychologie. Zusammen mit Bruno Deckert ist er Verleger der kulturwissenschaftlichen Buchreihe „Sphèressays“. Auf die Frage, wie er die verschiedenen Tätigkeiten unter einen Hut bringe, sagt er: „Einen Spagat zwischen meinen verschiedenen Tätigkeiten gibt es eigentlich nicht. Wissenschaftliche Arbeit, Psychoanalyse, Satire und sonstige Publizistik gehen gut aneinander vorbei und auch manchmal miteinander. Leider hat der Tag aber nur 24 Stunden.“ Langfristige Projekte, wie derzeitig zwei größere Buchprojekte zur Wissenschaftstheorie der Psychoanalyse einerseits und zur Geschichte des Autismus andererseits, kommen da zu kurz. Die Frage nach seiner Freizeit erübrigt sich eigentlich. Dennoch: Freizeit? „Freizeit habe ich tatsächlich keine außer in Fällen des Schreibstaus oder sonstiger Arbeitsunlust.“ Dann surft Peter Schneider im Internet, liest irgendwas und entspannt sich am liebsten mit Filmen; Wein, Whisky und Zigarren gehören dann dazu.

Seit nunmehr 30 Jahren am Zürichsee

In Zürich lebt der einstige Dorstener nunmehr seit 30 Jahren, also länger als er in Deutschland gewohnt hat. Seit 20 Jahren hat er den Schweizer Pass, den deutschen hat er durch seine Einbürgerung verloren. Er fühlt sich wohl an der Limmat und am Zürichsee, denn „hier bin ich zuhause“. Dazu gehören auch seine Frau Patricia Kunstenaar, Psychoanalytikerin und Übersetzerin, und ein 23-jähriger Sohn, der inzwischen in einer eigenen Wohnung lebt und Populäre Kulturen, Filmwissenschaft und deutsche Literatur studiert.

Zeitschriften-Cover mit dem Porträt des Zigarrenrauchers P. Schneider

Ist Peter Schneider ein arbeitswütiger Mensch? 

Die berufliche Variante seines Zuhauseseins ist vielfältiger und sieht derzeit so aus: Satiren und Kolumnen; etwa 25 Stunden in der Woche Arbeit in seiner Psychoanlayse-Praxis; Privatdozentur in Bremen sowie Lehrveranstaltungen auch an anderen Unis; ziemlich viele Vorträge auf diversen Veranstaltungen (wissenschaftliche und populäre) und zwischendurch mal ein Buch schreiben. Das ergibt eine 70-Stunden-Woche. „Ich hätte allerdings auch keine Mühe, das auf zehn Stunden zu reduzieren, wenn ich den Euromillionen-Jackpot knackte. Ich spiele allerdings nicht mit, und daher ist es unwahrscheinlich.“

Dorsten hat er kaum noch im Blick

Zu seinen heutigen Beziehungen zu Dorsten gefragt, antwortet Peter Schneider: „Eigentlich gar keine!“ Seinen Vater trifft er anderswo, manchmal in Berlin, wo der schweizer Ex-Dorstener seit zwei Jahren eine Wohnung hat. „Früher waren meine Eltern oft in Zürich oder wir haben uns zu Kurzferien irgendwo getroffen. Ich bin mit achtzehn aus Dorsten weggezogen; habe also nur ein Drittel meines Lebens dort verbracht und war auch nachher selten mal länger als einen Tag dort.“

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Publikationen (Auswahl): Alltag und Exotik. Aspekte einer Psychoanalyse der Ästhetik. Nexus, Frankfurt am Main 1988 (Diss. Bremen 1987). – Die Psychoanalyse ist kritisch, aber nicht ernst. Die Politik der Psychoanalyse der Politik. Nexus, Frankfurt am Main 1988; Psychosozial, Gießen 1999. – Hinter-Mir und Über-Ich. Das große Hausbuch der Psychoanalyse (als Co-Autor). Nexus, Frankfurt am Main 1989. – Freud, der Wunsch, der Mord, die Wissenschaft und die Psychoanalyse. Nexus, Frankfurt am Main 1991; Psychosozial, Gießen 2002. – Wahnsinn und Methode. Die Alzheimerisierung der öffentlichen Meinung. Edition Tiamat, Berlin 1993. – Freud-Deutung. Traum, Narzissmus, Objekt, Religion. Edition Diskord, Tübingen 1994. – Wahrheit und Verdrängung. Eine Einführung in die Psychoanalyse und die Eigenart ihrer Erkenntnis. Edition Tiamat, Berlin 1995. – Darf man am Sabbat psychoanalysieren? Oder die Ironie der Aufklärung. Edition Diskord, Tübingen 1996. – Sigmund Freud. DTV, München 1999. – Erhinken und erfliegen. Psychoanalytische Zweifel an der Vernunft. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2001. – Das Deuten der Psychoanalyse (als Co-Autor). Turia und Kant, Wien 2003. – Soll man nackte Menschen grüssen? Antworten. Zytglogge, Oberhofen 2005. – Theorie an der Bar. Omega, Stuttgart 2008. – Soll man Freud in Rente schicken? Kolumnen. Zytglogge, Oberhofen 2008. – Das Sterben der Anderen und der eigene Tod. In: Daniel Wyler (Hg.): Sterben und Tod. Eine interprofessionelle Auseinandersetzung. Zürich 2009. – Gleichheit und Furcht oder Die Zumutung des Nicht-Anderen. Thomas Hobbes: Leviathan, 13. Kap. In: Bulletin 1/2010 der Gesellschaft für hermeneutische Anthropologie und Daseinsanalyse. – Die Bildungsblase und der Verfall der universitären Autorität, Zürich 2010. – Cool Down.  Wider den Erziehungswahn, zus. mit Andrea Schafroth, Oberhofen 2011. – Frühchinesisch. Kolumnen, Oberhofen 2011. – Zuviel des Guten. Über Pathologien des Moralischen. In: Christoph Ammann, Barbara Bleisch u. Anna Goppel (Hg.): Müssen Ethiker moralisch sein? Essays über Philosophie und Lebensführung. Frankfurt a. M., Campus 2011. – Ein ziemlicher Etikettenschwindel. In: Gottfried W. Locher (Hg.) Gretchenfrage. Wie hast du’s mit der Religion? Oberhofen 2012. – Das Gehirn und seine Psyche. Versuche über den neuroscientific turn, Zürich, Verlag Spheres 2012. – Abfuhr, Ausdruck, Sprache. Über psychoanalytische Traditionslinien der Ausdruckstherapien“, In: Wulf Rössler u. Birgit Matter (Hg.): Kunst- und Ausdruckstherapien, Stuttgart, Kohlhammer 2012.
Quellen: Interview mit Dr. Schneider. – Homepage peterschneider. –Wikipedia, Online-Enzyklopädie (2013).
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3 Kommentare zu Was macht eigentlich der Petrinum-Abiturient Peter Schneider? Er ist Schweizer geworden, Psychoanalytiker, Satiriker und Gesellschaftskritiker – auch schreibt er Bücher

  1. Till sagt:

    Ein überaus interessanter Beitrag. Bei Herrn Opitz hat man wirklich viel gelernt – ob in Deutsch oder in Geschichte. Dorsten hat sich gerade in den letzten Jahren wirklich sehr verändert. Was ist nur aus dem Lippetor-Center geworden?

  2. Legan sagt:

    Bitte unbedingt mehr von Artikeln dieser Art und Güte. Meisterhaft!

  3. WvS sagt:

    Menschen wie Peter Schneider sind es, die Dorsten so bitter und dringlich fehlen. Doch verwundert es nicht, dass Menschen seines Schlages, intellektuell, wach und interessiert, dieser Stadt den Rücken kehren. Der Großteil der Bewohner war und ist geprägt von harter und mittelständischer Arbeit, was auf keinen Fall einen Makel darstellt. Eine Schande aber ist es, dass Dorsten, so wie es gestaltet und verwaltet wird, nur Augen für Dinge hat, “die etwas bringen”. Tut es aber hier augenscheinlich nicht. Weil die Querdenker fehlen, die einen Blick für das gelingende Andere haben. Die Menschen mit der funktionierenden Sensorik und dem klaren Blick. Wie fruchtbar könnte eine Symbiose aus Schaffenskraft und Intellekt sein …

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