Von Wolf Stegemann
Einige Vorbemerkungen zu den auf den ersten Blick verworren anmutenden Ereignissen des geschilderten Falles sind notwendig, um die ineinander greifenden Geschehnisse besser zu verstehen. Zugegeben, die Geschichte ist lang geworden, aber oft machen Detail einer Geschichte diese erst zur Geschichte. So ist es hier. Grundlage der Ausführungen ist eine Gerichts- und Polizeiakte mit Ermittlungsberichten aus den Kriegsjahren 1916/17 mitten im kriegsfriedlichen Holsterhausen. Sie ist nicht vollständig. Daher führen die einzelnen Abläufe dieser Story im Spannungsfeld zwischen dem „kleinen Mann“ und den Behörden, zwischen Crime, Sex und biederer Kleinbürgerlichkeit, zwischen Wut und Unbeholfenheit, Raffinesse und Naivität zu keinem Ende, zumindest in den Akten. Das nimmt der Geschichte aber keinesfalls den Reiz und die Spannung. Lässt man sich auf sie ein, halten uns die Protagonisten mit ihren menschlichen Schwächen einen Spiegel vor: Diese Geschichte hätte überall stattfinden können – und zu allen Zeiten.
Im Mittelpunkt der Ereignisse steht das Ehepaar Ferdinand und Anna B. in Holsterhausen und Heinrich P., der Liebhaber und Kostgänger der Ehefrau. In dieser Dreiecksgeschichte wird eine Ehe zwischen Bosheit und Verletzlichkeit, Schwächen und Gelüsten zerrieben. Kulisse dieser Tragödie, über deren Verläufe man aus heutiger Sicht und mit Abstand durchaus schmunzeln darf, bietet die Kantine des Gefangenenlagers der Zeche Baldur in Holsterhausen an der Kampstraße. Nebenrollen haben der Amtmann von Wulfen, Christoph Kuckelmann, seine Polizeibeamten, die sechs Dienstmädchen der besagten Ehefrau, die 140 gefangenen Russen, die Wachmannschaft sowie die privaten Kostgänger, welche die Ehefrau zu verpflegen hatte. Statisten sind 13 Wachsoldaten des Landsturms mit der Aufgabe, die Gefangenen zu bewachen, und die neun Kostgänger, mit Ausnahme des einen, der, wenn nicht die Hauptrolle, so doch eine tragende Rolle spielt.
Die Handlung: Der Ehemann der Kantinenwirtin, die zweifellos eine resolute, anpackende Frau ist, die ihren Mann auch verprügelt und aus dem Haus wirft, zeigt bei der zuständigen Polizeibehörde in Wulfen an, dass eben diese seine Ehefrau ein Verhältnis mit einem ihrer Kostgänger, dem Bergmann P. habe, und man möge diesen, damit er von der Bildfläche verschwinde, und die Ehe sich wieder zum Guten wende, zum Militär einziehen. Und so kommt eines zum andern. Obwohl nach fast 90 Jahren die Namen der Beteiligten genannt werden dürften, habe ich sie bei den Hauptpersonen durch Abkürzung unkenntlich gemacht, um die nachfolgenden Familienangehörigen, die unter diesen Namen in Holsterhausen bekannt sind, zu schützen.
1. Teil: Die Mitwirkenden
Der Amtmann Kuckelmann in Wulfen als Polizeibehörde, sein Amtssekretär Holz, die Kgl. Polizeidirektion Bochum, Abt. III (Kriminalpolizei), die Polizeiverwaltung Herten, das VIII. Polizeirevier in Herne, die Inspektion der Kriegsgefangenenlager des VII. Armee-Korps in Münster, der Landrat in Recklinghausen, die Kgl. Staatsanwaltschaft Duisburg, das königliche Landgericht in Essen, die Bergwerksgesellschaft Trier, Abteilung Zeche Baldur in Holsterhausen, die Polizei-Sergeanten Becker und Strukamp sowie Polizeikommissar Gustav Schulz aus Holsterhausen, anonyme Denunzianten aus Holsterhausen und Hervest sowie mehrere Zeugen und Zeuginnen aus dem Bergarbeitermilieu. All diese Leute hatten mit dem Fall zu tun, der 1916 als Anklage eines Ehemanns gegen seine Frau wegen Ehebruchs begann und im Laufe eines Jahres Verdächtigungen, Untreue und Betrug hochspülte. Wie bereits erwähnt, geben die unvollständigen Akten leider keinen Aufschluss über das Ende dieses tragikomischen Falles. Vielleicht könnte man die Geschichte selbst fantasievoll zu Ende schreiben. Die Leser sind aufgefordert, das zu tun. Gerne veröffentlichen wir die Texte. Vielleicht gibt es auch Leser, die den tatsächlichen Ausgang kennen.
2. Teil: Der Fall
Am 23. November 1916 geht der Kantinenwirt Ferdinand B. aus Holsterhausen, 58 Jahre alt, aufgeregt und voller Wut zur Polizeibehörde des Amtes Wulfen und erstattet gegen seine Ehefrau Anna, 51 Jahre alt, und deren Kostgänger Heinrich P., 46 Jahre alt, Anzeige wegen Ehebruchs. Seine Frau, so Ferdinand B., sei Pächterin der Kantine des Gefangenenlagers der Zeche Baldur in Holsterhausen. „Außerdem hält dieselbe etwa 10 Kostgänger.“ Darunter befände sich seit 1913 der besagte Heinrich P. Gegen den richtet sich nun die Eifersucht des Ehemannes, denn P. sei „meiner Frau besonders zugetan“. Er, der Ehemann, würde „vollständig zurückgestoßen. Irgendeinen ehelichen Verkehr hat meine Frau mit mir nicht mehr, ich werde von ihr stets abgewiesen. Mit dem Kostgänger P. hat meine Frau ein intimes Verhältnis und ich zweifle nicht daran, daß zwischen dem P. und meiner Ehefrau ein geschlechtlicher Verkehr besteht. P. verfolgt meine Frau auf Schritt und Tritt, ebenso meine Ehefrau den P.“ Und dann unterstreicht der mutmaßlich Gehörnte bei der Polizei seinen Verdacht mit Wahrnehmungen. Wenn er abends zwischen 9 und 10 Uhr nach Hause käme, eile seine Ehefrau, wenn sie ihn höre, auf Strümpfen vom Zimmer des P. ins gemeinsame Wohnzimmer, lege sich auf das Sofa und tue, als ob sie schlafe.
„Wenn ich meine Frau zur Rede stellte“, so diktiert Ferdinand B. dem Amtssekretär Holz ins Protokoll, „wurde ich von ihr verprügelt und verschiedentlich auch einfach vor die Tür getan.“
Seine Frau sei aber auch erfinderisch, meinte der Ehemann. Sie legte vor die Haustüre eine eiserne Platte, die ein Geräusch von sich gebe, wenn er, der Ehemann, beim Nachhausekommen auf sie trete. Und dann gibt B. noch an, dass er den nebenbuhlerischen Kostgänger bereits im Oktober zivilrechtlich verklagt habe. „Hierüber erbost, hat der Kostgänger mich verhauen.“ Und dann geht der Ehemann auch noch auf die losen sittlichen Verhältnisse des Kantinenpersonals ein, das seiner Frau untersteht. Sie würde keinerlei Kontrolle ausüben. „Die Mädchen Christine K. und Gertrud V. gehen von morgens früh bis abends spät zu dem Zimmer der Wachmannschaften und halten sich dort stundenlang auf.“
Ein Wachmann, so B. weiter, der zwischenzeitlich nach Münster abkommandiert sei und dessen Namen er nicht kenne, hätte in der Gaststätte Freitag in Dorsten öffentlich geprahlt: „In der Cantiene [sic!] von B. säßen die Mädchen von morgens früh bis abends spät bei den Soldaten in der Wachstube und die Ehefrau des B. bei den Kostgängern, namentlich bei dem P.“
Der Ehemann beklagt sich bei der Polizei noch darüber, dass seine Frau dem Kostgänger P. immer mehr Essen gebe, als den anderen oder ihm. Sie begründe dies immer damit, dass P. dies brauche. Als der Kostgänger P. im letzten Sommer eine Gefängnisstrafe wegen Beleidigung des Rittmeisters Buchfink zu verbüßen gehabt habe, weiß der Ehemann noch zu berichten, habe seine Frau „immer gejammert und geweint nach P.“ Nach Verbüßung der Strafe, als P. seine in der doppelten Bedeutung des Wortes Kostgängerstelle wieder einnimmt, habe die Ehefrau ihn, den Ehemann, aus dem Hause geworfen und er hätte dann sechs Wochen alleine in Hervest wohnen müssen. Außerdem dürfe er seit dem 10. November nicht mehr im gemeinschaftlichen Schlafzimmer schlafen, sondern müsse sich sein Bett auf dem Sofa im Wohnzimmer machen. „Saubere Wäsche bekomme ich überhaupt nicht mehr!“ Der Ehemann beantragt bei der Polizeibehörde in Wulfen, seiner Ehefrau das „Halten von Kostgängern zu untersagen“. Um den Nebenbuhler P. endgültig loszuwerden, gibt er den Hinweis, dass P. eigentlich kriegsverwendungsfähig sei: „Und um dem Verhältnis ein Ende zu machen, bitte ich, zu veranlassen, dass P. zum Heeresdienst einberufen wird.“
3. Teil: Die Fleisch-Überprüfung
Ferdinand B., der gehörnte Ehemann der Kantinenwirtin, hatte mit seiner Anzeige eine Lawine amtlicher Ermittlungen, Untersuchungen, Feststellungen und Vernehmungen losgetreten. Die bereits zitierten Behörden sind dabei umfangreich tätig gewesen. Amtmann Christoph Kuckelmann, 53 Jahre alt, beurteilte den Fall, der allein wegen der Anzeige eigentlich noch keiner war, aus der Sicht seiner moralischen Wertvorstellungen als so wichtig und dringend, dass er verfügt, der Holsterhausener Polizei-Sergeant Becker solle die Wohn- und Kantinensituation im Gefangenenlager der Zeche Baldur noch am selben Tag in Augenschein nehmen und umgehend Bericht erstatten.
Zuerst inspiziert der Polizei-Sergeant die Lebensmittel- und Fleischbestände und vergleicht sie mit den vorhandenen Fleischkarten. Im Keller findet er achteinhalb Pfund etliche Tage altes Rindfleisch und einige Karpfen. Der Polizist stellt fest, dass auf dem Anwesen neben den offiziellen Kostgängern noch andere sich aufhalten, die polizeilich hier nicht gemeldet sind, die Kantinenwirtin allerdings deren Lebensmittelkarten in Besitz hat. Gravierende Differenzen zwischen vorhandenen Fleischkarten und vorhandenem Fleisch kann er offensichtlich nicht feststellen. Doch sicher ist sicher. Er schreibt in seinen Bericht: „Zur Verhütung etwaiger Verdunkelung habe ich mich sofort mit Frau Metzger Schulte in Verbindung gesetzt.“ Allerdings ergibt auch diese Untersuchung kein plausibles Ergebnis.
4. Teil: Die Abstellung zum Militär
Amtmann Kuckelmann greift die Bitte des gehörnten Ehemannes auf und stellt noch am selben Tag, es ist der 23. November 1916, beim Direktor der Zeche Baldur in Holsterhausen, Limberg, den Antrag, den unliebsamen Kostgänger und Liebhaber P. für den Militärdienst freizustellen, was dieser am 27. November genehmigt. Daraufhin ermuntert der Amtmann am 4. Dezember das Kgl. Bezirkskommando in Recklinghausen, den Landsturmmann P. zum Militär einzuziehen. Das Schreiben kommt mit dem Vermerk zurück, dass P. für die nächste Einziehung vorgemerkt sei.
5. Teil: Die Vernachlässigung der Pflicht
Inzwischen gibt Ferdinand B., der gehörnte Ehemann, schriftlich dem Amtmann Kuckelmann zur Kenntnis, dass er, nachdem die Untersuchung durch den Polizei-Sergeanten im Hause stattgefunden hatte, nach seiner Rückkehr in die eheliche Wohnung von seiner Frau „aus dem Haus befördert“ worden war. Gleichzeitig gibt er an, dass seine Ehefrau an Sonntagen, wo das Geschäft besonders gut gehe, den Betrieb einigen jungen Mädchen überließe und selbst nicht anwesend sei. Diese Zustände, so der Ehemann weiter, seien unhaltbar und polizeiwidrig und er bitte um dringende Abhilfe. Daher erhielt der bereits in dieser Sache tätig gewesene Polizei-Sergeant Becker den Auftrag, „eingehende vertrauliche Feststellungen zu treffen und über das Ergebnis zu berichten“.
Becker stellt fest, wie er am 10. Dezember berichtet, dass die Ehefrau B. am Sonntagnachmittag zwischen vier und sieben Uhr tatsächlich mit einem ihrer Mädchen nach Dorsten gefahren sei. „Sie soll im Kinomatographen-Theater gewesen sein.“ Der Polizist bemerkt weiter: „Und dies zu einer Zeit, in der die Frau eigentlich die Gefangenen zu versorgen hatte.“ Von vertraulicher Seite erfährt Polizist Becker, dass sich die Dienstmädchen der Kantine in den Abendstunden oft in den Stuben der Wachsoldaten herumtrieben. Und er fordert, dass in der Zeit von 7.30 bis 8 Uhr abends militärische Revisionen der Wachstube angebracht seien.
6. Teil: Die anonymen Denunzianten
Offensichtlich hatten die Untersuchungen, die an solchen moralischen Sachen interessierte Öffentlichkeit in Holsterhausen und darüber hinaus erreicht, was sicherlich Neider, Spötter und Moral-Apostel auf den Plan brachte. „Einer, der die Verhältnisse beobachtet hat“, schreibt noch im November 1916 anonym an die Polizei und berichtet, dass die Kantinenwirtin B. wöchentlich von einem Metzger in Wulfen heimlich größere Mengen Fleisch und Wurstwaren herbeischaffe, und auch vom Metzger Schulte „vorige Woche einen Posten Rindfleisch geholt“ habe. Der Briefschreiber meint, dass nur durch solche Schiebereien sich die Frau B. „Kostgänger halten und gut befriedigen“ könne, „da denselben vier Mal am Tage Fleisch gegeben wird“. Sodann fordert der anonyme Briefschreiber:
„Ich bitte den Herrn Amtmann diesen Vorgängen einmal nachgehen zu wollen, damit den Schlemmereien in der Kantine ein baldiges Ende bereitet wird. Es wäre auch am Platze, den eigenen Mann der Frau, Ferdinand B. einmal zu vernehmen. Die Behandlung, die die Frau ihrem Mann zuteil werden lässt, ist unmenschlich und grausam. Die Kostgänger sind ihre Freunde und haben ein Herrenleben. Die ganzen Treibereien in der Kantine sind derart polizeiwidrig.“ Daraufhin wird der angeblich geschundene Ehemann vernommen. Er gibt an, dass „sowohl die Kostgänger als auch die Wachmannschaften tagtäglich von meiner Frau Fleisch [erhalten] und nicht nur Mittags, sondern auch zum Frühstück, Nachmittags und Abends… Als Fleisch wird nur Rindfleisch verbraucht, Schweinefleisch nicht…“
Weiter berichtet der Ehemann, dass für die Gefangenen und die Bewachungssoldaten die Militärbehörde in Wesel wöchentlich freitags 66 Pfund Fleisch liefere. Die Dienstmädchen holten das Fleisch immer um 7 Uhr am Bahnhof Wulfen ab. Woher seine Frau ansonsten Fleisch beziehe, sei ihm nicht bekannt.
7. Teil: Die Liebe geht als Fleisch durch den Magen
Jetzt wird Amtmann Christoph Kuckelmann wieder aktiv. Er ordnet an, dass Polizei-Sergeant Becker erneut in Aktion treten und die Kantine B. auf den ordnungsgemäßen Verbrauch von Fleisch kontrollieren soll, dabei seine Untersuchung aber nicht in „eine Belästigung ausarten“ dürfe. Becker hatte wohl keinen Nachweis dieser Beschuldigungen gefunden. Er meldet am 2. Dezember lapidar, dass er lediglich vier Pfund Fleisch vorgefunden habe und dass von nun die Metzger strenger zu kontrollieren seien. Am 10. Dezember macht sich Becker in der Kantine erneut auf die Suche nach Fleisch. Diesmal findet er 60 Pfund, die angeblich von der Militärversorgung Wesel stammten. Der Schreiber der Wachmannschaft sagt aber, dass 69 Pfund Fleisch geliefert worden seien. Zur Überprüfung sammelt der Polizei-Sergeant die Fleischkarten von allen Kostgängern und dem Kantinenpersonal ein und schickt sie zur Überprüfung an den Amtmann nach Wulfen. Nun mischt sich wieder Ehemann B. ein und beschwert sich beim Amtmann, dass sein Nebenbuhler, der Kostgänger P., am Donnerstag zum Abendessen von seiner Frau 487 Gramm Fleisch erhalten habe und ihm auch am folgenden Montagabend ein halbes Pfund Fleisch gegeben worden sei. Weiter heißt es: „Als ich meiner Frau deswegen Vorhaltungen machte, wurde sie frech und war ich Stößen und Durcheinanderschütteln seitens meiner Frau ausgesetzt.“
Der Rosenkrieg zwischen den Eheleuten geht weiter: B. entdeckt, dass sich seine Frau mit dem vom Militär wieder entlassenen Kostgänger P. eingeschlossen und ihn, dem heimkommenden Ehemann, nicht geöffnet hat. Am andern Tag sei ihm erklärt worden, er solle sich von nun an entfernen. Er schließt sein Schreiben mit der wiederholten Bitte, „diesen traurigen Zuständen ein baldiges Ende zu bereiten“. Polizei-Sergeant Becker lädt daraufhin den hadernden Ehemann am 12. Dezember zur Vernehmung ins Holsterhausener Kommissariat vor. In seiner Einlassung will B. den Behörden eine „Handhabe liefern zum behördlichen Eingreifen“ in die Ereignisse, damit sie ein Ende nähmen. Er gibt an: „Die Wachtposten […] gehen jeden Morgen in die Schlafzimmer der Dienstmädchen und wecken diese. Meine Frau duldet das. Den Schlüssel vom Schlafzimmer läßt sie in der Toilette niederlegen, von wo ihn die Wachsoldaten holen.“ Auch habe er Soldaten gesehen, die nachts aus dem Schlafzimmer der Dienstmädchen gekommen seien. Und er mutmaßt: „Zweifellos werden dort unerlaubte Handlungen getrieben.“ Damit könnte er recht gehabt haben, denn eines der Dienstmädchen wurde von einem Soldaten geschwängert; aber davon später mehr.
8. Teil: Das Verbot
Wie das Kantinen-Ehepaar B. und der Kostgänger P. das anstehende Weihnachtsfest und Neujahr verbrachten, ist nicht bekannt. Aber schon am 3. Januar meldet sich der Ehemann erneut beim Amtmann in Wulfen. Er beschwert sich, dass er auf seine Anzeige gegen seine Ehefrau und den Kostgänger bislang nichts wieder gehört habe. Er ermahnt den Amtmann, seine Frau an ihre gesetzlichen Pflichten erinnern zu wollen. Daraufhin wird Kuckelmann am 8. Januar 1917 tätig. Er lässt an die Ehefrau einen Brief schreiben. Darin bescheinigt er ihre Unzuverlässigkeit in Sachen Kost- und Quartiergänger und verbietet ihr auf Grund des Gesetzes über die Polizeiverwaltung von 1850 und des Paragrafen 132 des Landesverwaltungsgesetzes von 1889 das Halten von Kostgängern, die sie innerhalb von drei Tagen nach Zustellung der Verfügung zu entlassen habe. Sollte sie dem nicht nachkommen, drohen 30 Mark Geldstrafe oder drei Tage Haft.
9. Teil: Der Einspruch
Drei Tage später tummeln sich die Kostgänger immer noch im Haus der behördlich angemahnten Ehefrau. Statt sie zu entlassen, stellt Anna B. den Antrag auf Freigabe der Kostgänger. Anna B. wird von dem in diesem Fall schon bestens versierten Polizei-Sergeanten Becker ins Kommissariat Holsterhausen vorgeladen. Dort gibt sie an, ihr sei bislang nicht bekannt gewesen, dass sie zum Halten von Kost- und Quartiergängern als ungeeignet bezeichnet werde. Dass ihr Mann sie angezeigt habe, sei nur geschehen, damit sie bei der Behörde im schlechten Licht zu stehen komme. Gegen die Verfügung des Amtmanns legt sie daher Einspruch ein.
10. Teil: Die Zeugen
Daraufhin beantragt ihr Ehemann die Vorladung von Zeugen: Maria Ladenstein (18 Jahre alt), Dienstmädchen beim Wirt Loick in Rhade, Christine Ladenstein (22 Jahre alt), Haustochter bei ihren Eltern im Emmelkamp 13, Arbeiter Hermann Weber aus Dorsten, Bauhausstiege 3 und andere.
Haustochter Maria Ladenstein war 1915 für einen Monat Köchin im Kantinenbetrieb der Ehefrau Anna B. auf der Zeche Baldur und sagt u. a. folgendes aus: „In dieser Zeit habe ich einen intimen Verkehr zwischen der Ehefrau B. und dem Kostgänger P. wahrgenommen. Während der Arbeitszeit des Ehemanns B. war Ehefrau B. stets bei P. im Kostgängerzimmer…“
Arbeiter Hermann Weber, der 1916 fast tagtäglich im Kantinenbetrieb von B. ausgeholfen hatte, sagt aus, dass er in dieser Zeit „regelmäßig einen intimen Verkehr zwischen der Ehefrau B. und deren Kostgänger P. wahrgenommen habe. Das Verhalten der Ehefrau B. ihrem Ehemann gegenüber war geradezu rüpelhaft.“ Schließlich habe er sein Arbeitsverhältnis wegen des Verhaltens der Ehefrau aufgegeben.
In Bottrop wird Maria Ladenstein als Zeugin vernommen. Auch sie habe gesehen, dass intimer Verkehr zwischen der Ehefrau B. und Kostgänger P. stattgefunden habe. Ein anderes Dienstmädchen habe ihr erzählt, dass die Ehefrau diese aufgefordert habe, sie solle bei der Heimkehr ihres Ehemannes laut husten, damit sie noch rechtzeitig aus dem Zimmer des Kostgängers in die Küche komme, bevor ihr Mann das Haus betrete. Die Zechenarbeiterin Emilie Nieschke aus Bottrop (18 Jahre alt) sagt aus, dass sie fast tagtäglich Gelegenheit gehabt hatte, das intime Verhältnis zwischen Ehefrau B. und ihrem Kostgänger P. zu beobachten. „Wenn P. zu Hause, also nicht zur Arbeit war, wurde er von Ehefrau B. fortdauernd verfolgt und in seinem Kostgängerzimmer aufgesucht.“ Sie schildert noch, dass P. in der Verpflegung bevorzugt worden sei. „Gelegentlich einer Auseinandersetzung zwischen den Eheleuten“, erinnert sich die Zeugin, „erklärte Ehefrau B. ihrem Ehemann in meiner Gegenwart, er sei geschlechtlich nicht mehr leistungsfähig und der andere [damit war P. gemeint] verstünde seine Sache besser.“
11. Teil: Die Vorstrafen
Am 1. Februar 1917 erreicht ein anonymes Schreiben den Amtmann, das so beginnt: „Euer Hochwohlgeboren, erlauben wir…“. Im Namen mehrerer Einwohner von Holsterhausen und Hervest schreibt „gehorsamste“ ein N. N. u. a.: Die Ehefrau B., die getrennt von ihrem Mann lebe, führe einen derartigen Lebenswandel, dass derselbe zu raten [Anlass] gebe.
„Sie gehen andauernd auf Reisen und ist stets wie eine Baronin in Sammet und Seide gekleidet, sie trägt goldene Ringe und Brillanten. Das kann doch nicht nur aus der Kantine des Gefangenenlagers herrühren. Der Mann treibt sich armselig und verlassen in Hervest herum… Da das Verhalten der Ehefrau B. mit dem Kostgänger P. zu Ärgernis Anlass gibt, bitten wir den Herrn Amtmann, doch die nötigen Maßregeln dort zu treffen, da das Gefangenenlager doch stets ohne Aufsicht steht und fremden Leuten überlassen ist und die Frau ihre Lust und Liebe nachgeht zum Verdruss der Mitmenschen.“
Gleichzeitig machen die anonymen Briefschreiber den Amtmann auf die Vorstrafen des Kostgängers P. aufmerksam: Beleidigung und wissentlicher Meineid. Daraufhin fordert der Amtmann bei der Staatsanwaltschaft das Vorstrafenregister des Kostgängers an. In der Tat ist der Kostgänger kein unbeschriebenes Blatt: In Duisburg war er 1896 wegen wissentlichen Meineids zu 1 Jahr und 3 Monaten Gefängnis, in Oberhausen 1900 wegen Körperverletzung und Beleidigung zu 12 Monaten Gefängnis und in Dorsten 1915 wegen Beleidigung eines Offiziers zu sechs Wochen Gefängnis verurteilt worden. Die Beschwerde der Ehefrau gegen die polizeiliche Verfügung, ihre Kostgänger zu entlassen, schickt Amtmann Kuckelmann zur Entscheidung an den Landrat in Recklinghausen. Dieser will erst einmal wissen, wer rechtlich Vermieter des dem P. gewährten Quartiers sei. Die Bergwerksgesellschaft Trier, Abt. Zeche Baldur, bestätigt, dass Ehefrau B. die Vermieterin des Quartiers für P. sei. Ihr, der Bergwerksgesellschaft, stehe es aber nicht zu, hier rechtlich einzugreifen, da es „uns an jeglicher Handhabe [fehlt], um regelnd in die verworrenen Verhältnisse eingreifen zu können. Die einfachste Lösung wäre eine Einberufung [zum Militär] des P.“ Zur rechtlichen Klärung fügt Amtmann Kuckelmann noch hinzu, dass die Ehefrau B. von der Zechengesellschaft zur Führung der Küche des Gefangenenlagers eingesetzt worden sei und die Erlaubnis habe, mehrere Räume mit ihrer Familie zu bewohnen. Somit sei sie berechtigt, Kost- und Quartiergänger der Zeche Baldur zu halten, nicht aber den Kostgänger P, da dieser auf einer anderen Zeche arbeite. Ehemann B. sei zur Ausübung der Rechte als Familienvorstand befugt, wohne aber wegen Familienstreitigkeiten von seiner Frau getrennt. Er wohnte zu dieser Zeit in der Halterner Straße 59 in Hervest.
12. Teil: Die Beanstandung des Landrats
Am 17. März 1917 erklärt der Landrat die polizeiliche Verfügung des Amtmanns für rechtsungültig und hebt sie auf, da die Ehefrau rechtlich Vermieterin ist. Auch rügt er den Wulfener Amtmann, wenn er schreibt:
„Im übrigen weise ich darauf hin, dass es nicht zu den Aufgaben der Polizei gehört, sich in private Streitigkeiten einzelner Personen einzumischen, dass somit in vorliegendem Falle, in dem es sich lediglich um Differenzen der Eheleute B. und des Kostgängers P. untereinander handelt, ein Anlass zu irgendwelchen polizeilichen Maßnahmen überhaupt nicht vorlag.“
Dies zumal auch deshalb, weil durch das ehelichen Verhalten kein öffentliches Interesse berührt werde. Schließlich wird noch das Dorstener Königliche Amtsgericht, Abteilung Familiengerichtssachen, tätig. Unter dem Aktenzeichen X. 2294/1 fragt es beim Kommissariat in Holsterhausen an, welche Erkenntnisse die Behörde in Sachen vormundschaftlicher Maßnahmen wegen der gemeinschaftlichen Kinder des Ehepaares B. habe. Daraufhin wird der gesamte Aktenvorgang mit der Bitte um Rücksendung an das Amtsgericht geschickt. Die Verhandlung allerdings sollte vor der Zivilkammer des Kgl. Landgerichts in Essen stattfinden.
13. Teil: Das geschwängerte Dienstmädchen
Inzwischen hat sich die eheliche Auseinandersetzung der Eheleute weiter zugespitzt und bekommt auch eine strafrechtliche Relevanz. Denn Ehemann Ferdinand B., der immer noch in der Halterner Straße 59 wohnt, sagt am 29. Mai 1917 vor der Polizeibehörde in Wulfen aus, dass seine Frau Anna B. den Bergmann und Kostgänger P. zu sich genommen habe und mit diesem „in Konkubinat“ lebe. Als Zeugen benennt er die Hervester Hausfrau Sophie Buerbaum. Das Amt Wulfen bittet von sich aus am 6. Juni 1917 die Polizeiverwaltung in Weimar, den dort lebenden Bergmann Fritz Binde als Zeugen in der Affäre zu vernehmen. Der sagt aus, dass er als 22-jähriger Landsturmmann im Gefangenenlager in Holsterhausen Dienst tat. Die Wachstube befand sich im Hause der B. und zwar im Erdgeschoss. Durch ein Fenster habe er von der Wachstube aus in das nebenan liegende Zimmer direkt sehen können. „Durch dieses Fenster habe ich und auch noch andere Kameraden gesehen, wie sich der P. und die B. umarmten und küßten.“
Sophie Buerbaum (39 Jahre alt) weiß bei ihrer Befragung wohl, dass die Ehefrau B. große Stücke auf den Kostgänger P. gehalten habe, ihm auch bessere Lebensmittel zusteckte als ihrem eigenen Mann, aber, so die Zeugin weiter, „was Frau B. jetzt mit ihrem Kostgänger treibt, weiß ich nicht“.
Das Dienstmädchen Agnes Wotasiak (23 Jahre alt) aus Gladbeck sagt aus, dass es jeden Tag Streit zwischen den Eheleuten gegeben habe. Grund sei der Kostgänger P. gewesen, in dessen Zimmer die Ehefrau B. stets gegangen sei, sobald ihr Mann das Haus verlassen habe. Sie sagte aus, dass die anderen Kostgänger von den Dienstmädchen bedient worden seien, der P. aber immer von der Ehefrau, die ihm das Essen auch ins Zimmer gebracht habe. Und sie schließt ihre Aussagen mit dem Satz: „Es ist meine feste Überzeugung, dass Frau B. mit dem Kostgänger P. ein intimes Verhältnis unterhält.“
Die Zeugin Christine Krumm (22 Jahre alt) aus Herten war nicht mehr aufzufinden. Polizeikommissar Schulz fand allerdings heraus, dass das Dienstmädchen während ihrer Zeit als Hilfe der Ehefrau B. im Gefangenenlager Zeche Baldur „von einem Soldaten des Wachkommandos geschwängert worden war“. Gleichzeitig bekommt der Polizei-Sergeant Strukamp von Schulz den Befehl, genauestens zu ermitteln, wo die Dienstmädchen untergebracht waren, ob der Ehefrau B. ein Verschulden [Kuppelei] nachzuweisen sei, wo der Kostgänger und Frau B. ihre Zimmer hatten, ob die Aussagen der Ehefrau B. zuverlässig seien und wo die Zeugin Krumm abgeblieben sei. Nach fünf Tagen gibt Strukamp seinen Bericht ab. Die Zeugin Krumm sei angeblich bei Verwandten in Herten untergekommen, die aber nicht aufzufinden seien. Die Ehefrau B. träfe im vorliegenden Falle zweifellos ein Verschulden, denn es wäre geboten gewesen, so der Polizei-Sergeant, den damals sechs Dienstmädchen in sittlicher Hinsicht besondere Vorsicht zukommen zu lassen. Dann erläutert er die Lage der Zimmer des Hauses. Er kommt zu dem Schluss: „Frau B. ist durchaus nicht die Person, welche als zuverlässig beurteilt werden kann.“ Sie biete absolut keine Gewähr dafür, so der Holsterhausener Polizist weiter, „dass nicht auch andere Mädchen, die ihr unterstellt sind, in gleicher Weise wie die eingangs erwähnte Krumm, sittlich verdorben werden“. Er empfiehlt dringend, „daß hier andere Verhältnisse geschaffen werden“.
In Herten wird die Zeugin Christine Krumm doch noch aufgefunden. Sie erklärt vor der Kriminalpolizei Herten, dass sie von dem Landsturmmann Wilhelm Heitbrink vom 4. Königlichen Landsturm-Bataillon Münster geschwängert worden war, als dieser Dienst im Gefangenenlager der Zeche Baldur leistete. Das Kind sei nun zwei Monate alt und sie würde es bei sich großziehen. Sie gibt an, dass sie nicht wisse, ob zwischen dem Kostgänger und der Ehefrau B. ein unerlaubter Verkehr bestanden habe.
14. Teil: Das Essen für die Schweine
Ehefrau Anna B. will ihren Noch-Ehemann Ferdinand B., der immer noch in Hervest wohnt, loswerden. Daher schreibt sie an das Amt Wulfen einen Brief, in dem sie darum bittet, ihren 57-jährigen Mann, „der beschäftigungslos ist, und vor Langeweile nichts anzufangen weiß, zum Vaterländischen Hilfsdienst einzuziehen“. Sie begründet dies mit der ständigen öffentlichen Beschimpfung durch ihren Mann, der dadurch „auf den Straßen Aufläufe“ verursache.
„Sollte mein Mann sich auf ärztliche Atteste berufen, daß er arbeitsunfähig sei, so bemerke [ich] dazu, daß mein Mann gesund ist, und gut leichte Arbeiten verrichten kann, da er ja auch im Herbst 1915 als Vorarbeiter im Gefangenenlager Hervest-Dorsten tätig war.“
Die Gegenattacke bleibt nicht aus. Ehemann Ferdinand B. behauptet gegenüber Polizeikommissar Schulz, dass seine Frau den kriegsgefangenen Russen nicht genügend Essen verabfolge und das Essen lieber für die Fütterung der Schweine verwende. Die Polizeibehörde schickt die Aussage an die Inspektion der Kriegsgefangenenlager des VII. Armee-Korps in Münster zur Kenntnisnahme und eventuellen weiteren Veranlassung.
Kommissar Schulz vernimmt die Ehefrau B. am 17. Juni 1917 zu diesem Vorwurf, den die Beschuldigte abstreitet. Bei der Essensausgabe sei immer der Unteroffizier Topps zugegen gewesen. Und wer mehr Essen wollte, hätte es bekommen, wenn etwas übrig geblieben war.
15. Teil: Das fehlende Ende der Geschichte
Damit endet die Akte, die einen Ausschnitt eines überaus verworrenen Sittengemäldes nachzeichnet, dessen triviale Mosaiksteine Lebenslust, Moral und Unmoral, sittliche Verfehlung, anonyme Denunziationen, unerlaubte behördliche Vermengungen von moralischen Werten mit polizeilichem Handeln, Unterstellungen und Verletzungen, Boshaftigkeit und Rachsucht heißen. Es ist eine Geschichte aus Holsterhausen, sie könnte aber an jedem x-beliebigen Ort stattgefunden haben – übrigens auch zu allen Zeiten. Und noch eins: solche Geschichten schreibt nur das Leben!
- Wer hat Lust, diese Geschichte zu Ende zu schreiben? An scriptoris@arcor.de
wie wäre es mal mit aktuellen skandalen aus der hochburg der proleten? da gibt’s genug zu schreiben! keine unterstützung für eltern schwerbehinderter kinder, erhöhung der parkgebühr, um sich einen kurzaufenthalt in der schmuddelcity zu gönnen usw. usf.
Anmerkung der Redaktion: Vielen Dank für den Hinweis und die Tipps! Wir kümmern uns natürlich auch um solche Themen, was beim Durchblättern der bereits veröffentlichten Artikel sichtbar wird.