Vor 50 Jahren, am 25. August 1970, drehten der NDR und die BBC in Wulfen einen Film und verglichen die Planungen und Probleme der beiden „Neue Städten“: das hiesige Barkenberg mit dem englischen Runcorn

Metastadt in Barkenberg, um 1975, inzwischen abgerissen

Von Wolf Stegemann

24. August 2020. – Die Barkenberger mochten erstaunt gewesen sein, als sie am 25. August 1970, also am Dienstag vor genau 50 Jahren, zwei Kamerateams in den Straßen und Wohnanlagen der „Neuen Stadt“ Barkenberg filmen sahen. Die einen sprachen Deutsch und waren vom Norddeutschen Rundfunk Hamburg (NDR), das andere Team kam von der britischen TV- und Rundfunkanstalt BBC in London. Die beiden Teams filmten dann auch im englischen Runcorn, etwa zehn Kilometer vom Liverpool entfernt, weil dort zeitgleich mit ähnlichen Problemen eine „Neue Stadt“ gebaut wurde. Beide Stadtplanungen, die von Barkenberg und die von Runcorn, wurden in dem Film verglichen. Das Thema war damals wohl so aktuell, dass der NDR-Journalist Volker Petzold 1972 über die Vergleiche im rororo tele-Verlag ein Taschenbuch mit dem Titel „Modelle für morgen – Probleme von Städtebau und Umweltplanung“ herausgab, in dem er zwei „Neue Städte“ beschrieb, eben Wulfen-Barkenberg und die „Neue Stadt“ Runcorn in England. Weitere acht Beschreibungen berichten von „neuen Regionen“ (Alsfeld/Hessen, Lambeth in Groß-London, Grafschaft Durham in England) sowie von neu entwickelten Erholungslandschaften inmitten ausgedehnter Industriegebiete (im Ruhrgebiet, rheinischen Braunkohlenrevier, im Nordosten von Groß-London).

Volker Petzold, Regisseur und Journalist beim NDR: „An allen diesen Beispielen zeigt sich die Notwendigkeit, die Planung nicht allein einer zuständigen Obrigkeit anzuvertrauen, sondern die betroffene Bevölkerung an den Überlegungen zu beteiligen.“ In dem NDR/BBC-Film werden die Planungen in Barkenberg 1970 als kinderfreundlich, die wabenförmige Verkehrsverbindung als vortrefflich und der soziale Wohnungsbau als vielfältig dargestellt. Allerdings galt der Wohnungsbau als Hauptproblem. Denn nach staatlicher Maßgabe war Barkenberg fast ausschließlich im sozialen Wohnungsbau zu errichten. „Umso erfreulicher die Vielfalt.“

Barkenberger Architekten auf der Titelseite des Taschenbuchs

Mit der Betrachtung des TV-Films über Wulfen und dem britischen Runcorn leitet der Autor das Buch nicht nur ein, sonders zeigt auf dem von dem Dorstener Peter Körber gefertigten Titelbild des Buches die für Barkenberg damals tätigen Architekten und Raumplaner, die gerade über das Stadtmodell Barkenberg diskutieren: Wittwer, Zahn, Stumpfl, Broich und Zeppenfeld im Alter von vor 50 Jahren! In den 1950er- und 60er-Jahren boomte die Wirtschaft, Kohle war knapp. Durch Kriegsschäden und Zustrom aus dem Osten fehlte Wohnraum. Die Folge war, dass es im Ruhrgebiet mehr Arbeitsplätze gab als Wohnungen vorhanden waren. So auch in Wulfen, wo für die Arbeiter und ihre Familien das Dorf Wulfen nicht einfach um eine klassische Zechenkolonie erweitert werden sollte, sondern es sollte ein neuer und moderner Stadtteil entstehen. Um nicht nur vom Bergbau abhängig zu sein, wurden für die „Neue Stadt Wulfen“ ergänzendes Gewerbe und unter Einbeziehung von Altwulfen eine Größenordnung von rund 50.000 Einwohnern sowie eine vollständige städtische Infrastruktur geplant. Die damalige Unwirtlichkeit der Städte war sprichwörtlich geworden. Sie erstickten im Verkehr, an überalterten Stadtvierteln, an der Massierung neuer Industrie und Bürobauten. Volker Petzold packte 1970 dieses als damals allgegenwärtige Thema an. „Das Unbehagen ist groß geworden, das Bedürfnis an Planung ebenfalls. Aber es fehlt an Planern, oder die Planer sind rat- oder machtlos.“ Er bezeichnete die damalige Situation als „unerträgliche Notstände“.

Neue Städte entstanden nicht selten durch unerträgliche Notstände

Der vom NDR und der BBC produzierte Film stellte schon 1970 fest, dass Städte am Verkehr ersticken. Das hat sich bis heute noch verschärft. Im Jahr 1970 waren die Filmemacher auch der Meinung, dass  da und dort Einsicht und Energie von Architekten und Behörden, nicht selten erzwungen durch unerträgliche Notstände, zu Ansätzen geführt haben, die als Modelle für eine befriedigende Um- und Neugestaltung geführt hätten. Diese dürften „als Modelle für eine befriedigende Um- und Neugestaltung von Städten“ gelten, darunter das Modell Barkenberg und im Vergleich Runcorn bei Liverpool als Anlage von „Neuen Städten“. 1971 zählte die erst fünf Jahre zuvor bezogene „Neue Stadt“ Barkenberg rund 6000 Einwohner. Dreißig Jahre später, so die Planung, sollte der Ortsteil zehnmal so viele Einwohner haben.  Entsprechend war das Bauen, doch die Einwohner blieben aus. Leerstände wurden von Sozialämter umliegender Städte mit prekären Familien belegt. Das ist aber eine andere Geschichte Barkenbergs. Zurück in die 1960er-Jahre:

Einwohnerziel von 60.000 wurde nicht erreicht

Der Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk (heute RVR) initiierte die Gründung der Entwicklungsgesellschaft Wulfen. 1961 gewann der Berliner Professor Fritz Eggeling den städtebaulichen Wettbewerb. Nach seinem frühen Tod setzte dessen Arbeitsgruppe „Grosche-Börner-Stumpfl“ die Planung fort, in die viele Landes- und Bundesmittel flossen. Eine Besonderheit Barkenbergs ist seine hohe ökologische Qualität durch den großen Grünflächenanteil. Auffällig ist das von den wenigen breiten Straßen weitgehend getrennte Rad- und Fußwegenetz mit vielen Brücken und Unterführungen. Dadurch gibt es fast keine Verkehrsunfälle, die Orientierung ist jedoch erschwert. Die elektrische Beheizung der Häuser sollte der Luftreinhaltung und dem Kohleabsatz dienen, wird aber heute kritisch gesehen.

Ladenpassage in Barkenberg; mittlerweile total verkommen

Bundesweit beachtete Experimentalbauten in Barkenberg

Gebaut wurden um 1970 zuerst größere Baugruppen im sozialen Wohnungsbau. Da die Zeche entgegen der ursprünglichen Erwartung nie mehr als 450 Beschäftigte hatte, wurde das Einwohnerziel von 60.000 auf 20.000 reduziert. In der nächsten Phase wurden überwiegend Reihenhäuser in verdichteter Bauweise erstellt, die heute 40 Prozent der Barkenberger Wohnungen ausmachen. Bundesweites Aufsehen erregte Wulfen in den 1970er-Jahren auch mit den nur teilweise geglückten Experimentalbauten Metastadt, Finnstadt und Habiflex. Bis 1983 entstand am Wulfener Markt ein Zentrum mit Gesamtschule, Bibliothek, Gemeinschaftshaus, Freizeitbad, Ärztehaus und Ladenpassage (Foto). Nach 1990 endete die Bautätigkeit und in dem einstigen Neubaugebiet mit sehr junger Bevölkerung normalisierte sich die Altersstruktur. In den Anfangsjahren waren viele junge Familien eingezogen, die sich beim Aufbau des Gemeinwesens engagierten. Wegen fehlender Arbeitsplätze vor Ort hatten die Wohnungsbaugesellschaften Schwierigkeiten die Wohnungen zu vermieten, wodurch die soziale Mischung problematisch wurde. 1970 gab der Regisseur und Autor Petzold am Schluss der Betrachtungen über Wulfen-Barkenberg eine schulterzuckende Prognose: „Ob diese Vorzüge jedoch alle Nachteile, die sich für eine neue Stadt vor allem aus dem Mangel an Kontrasten zwischen alt und neu und aus dem Fehlen einer organisch gewachsenen Gemeinschaft von Menschen ergeben, aufzuheben vermögen, kann sich erst in der Zukunft erweisen. Im Jahr 2000 vielleicht, wenn der Ausbau der 668. Stadt Deutschland [das ist Barkenberg] beendet ist – sofern auch weiterhin alles nach Plan verläuft.“
Die Zukunft ist im Jahr 2020 da. Es lief nicht alles nach Plan. Es gibt sehr schöne Winkel, Wohnbebauungen, Ecken und Straßen in Barkenberg, sehr viel Grün und auch einen See, Doch etliche 1970 noch hochgepriesene Gebäudekomplexe wie die Markthalle mit den Sozialwohnungen, andere Projekte und Vorstellungen wie z. B. die bauliche Verbindung zwischen Barkenberg und Wulfen herzustellen,    sind gescheitert – und zwar deftig. Als „Neue Stadt“ ist Barkenberg heute lediglich ein Siedlungsbereich des Stadtteils Wulfen geblieben, in dem bei fallender Tendenz knapp 10.000 Einwohner leben.

Backenberg oder Barkenberg? Eine Geschichte zum Schmunzeln

Der Name Barkenberg ist 1964 offensichtlich auf ein paar Schnäpse zuviel  oder einem Schreibfehler von vor 391 Jahren zurückzuführen. Fest steht, dass die Flur seit mindesten 1629 urkundlich belegt „Backenberg“ heißt. Dieser Name gefiel den Stadtplanern von 1962  nicht. Daher wurde er eben von den Stadtplanern und dem Wulfener Bürgermeister an einem Kegelabend in Bierlaune in „Barkenberg“ umgewandelt. Zur Begründung schrieb der damals beteiligte Stadtplaner Hermann Börner in seinem Aufsatz „Wie ein großer Spielplatz für alle Lebensalter: Neue Stadt Wulfen“, der in „Standorte – Jahrbuch Ruhrgebiet 1999/2000 erschien:

„Wir (damals noch jungen) Planer suchten 1962 einen Arbeitstitel für den ersten Bauabschnitt. In alten Karten fanden wir den Namen ,Backenberg’. Beim Bürgermeister von Wulfen nahmen wir auf dem Hof Schonebeck unsere ersten Büroräume und gingen abends mit zum Kegeln ins Dorf. Bei Bier und Schnaps machten wir in ,Bürgerbeteiligung’ und änderten unseren Arbeitstitel schleunigst in ,Barkenberg’. Denn Backenberg war nicht westfälisch und ein ganz alter Schreibfehler. Der Arbeitstitel ,saß’ …und wurde so zum Stadtteilnamen, obwohl er von weder von der Verwaltung noch der Lokalpolitik so beschlossen wurde.“

Und die britischen Stadt Runcorn? Wirklich ein Vergleich?

Runcorn ist eine kleine englische Stadt und hatte 1970 rund 30.000 Einwohner, verbunden mit einer Brücke über den Mersey. Doch dazwischen liegen Welten. Auf der einen Seite Liverpool, eine Millionenstadt voller Schmutz, Qualm und Lärm, mit Slums, die 1970 noch zu den schmutzigsten in England gehörten. Auf der anderen Seite Runcorn, eine Kleinstand mit großer Zukunft. Und um den grauen, engen Ortskern von Runcorn wuchs 1970 Englands modernste Stadtlandschaft empor, die 31. „British New Town“ (Bild), ähnlich wie in Wulfen die „Neue Stadt“ Barkenberg. Baubeginn für die Neue Stadt war 1964. Zwei Jahre später wurden die ersten Häuser bezogen. Man plante damals in Runcorn so, dass der Ausbau des neuen Gemeinwesens erst im Jahre 2000 vollendet sein würde. Denn hier sollen 100.000 Menschen leben, in einer für die Bedürfnisse von morgen maßgeschneiderten Umwelt. Ohne hier auf die näheren Planungen und Probleme einzugehen, hatte Runcorn ähnliche Probleme wie die Planer in Barkenberg. Vieles von dem, was 1970 von NDR/BBC noch hochgelobt wurde, ist danach gescheitert.
2009 wurde die „New Town“ Runcorn“ von der englischen Regierung als „Katastrophe“ bezeichnet. Denn die Neue Stadt, in welcher der Mensch in seiner urbanen Umwelt im Mittelpunkt steht, verkam zu einer Stadt mit überwiegend stark prekären Bevölkerungsschichten (bekannt durch Drogen, Alkohol, Kriminalität). Die Industriestadt Runcorn hat auch die geplante Einwohnerzahl nicht erreicht. Derzeit sind es rund 61.000 Einwohner. – 1970, als der NDR und die BBC sowie der NDR-Journalist Volker Petzold den Vergleich der beiden „Neuen Städte“ anstellten, war das teilweise Scheitern der damaligen Planungen, was vielerlei unvorhergesehene Gründe hatte, nicht vorherzusehen – weder in Barkenberg noch in Runcorn.
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Quellen: Volker Petzold „Modelle für morgen –Probleme von Städtebau und Umweltplanung“, rororo 1972. – Wikipedia (Aufruf Runcorn 2020). – Wulfen-Wiki (Aufruf 2020). – Dorsten-Lexikon (Aufruf Barkenberg, 2020).
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