Was macht eigentlich … der ehemalige Petrinum-Schüler Andreas Heidtmann? Der Pianist, Philosoph, Schriftsteller, Verleger und Preisträger beschreibt in seinem neuen Roman auch seine Jugend in Schermbeck und Dorsten

Ehemaliger Petrinumschüler Andreas Heidtmann 2019; Foto: Sascha Kokot

Von Wolf Stegemann

30. April 2020. – Was haben Hünxe, Schermbeck, Dorsten, Köln, Berlin und Leipzig gemeinsam? Mit den ersten drei Orten könnte man schon Zusammenhänge finden, doch mit den anderen drei Städten? Da findet man den Lektor, Lyriker, Romanschriftsteller, Herausgeber und Pianisten Andreas Heidtmann, dessen Leben 1961 in Hünxe begann und der in Leipzig von der literarischen und über Leipzig hinausreichenden Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Dazwischen liegen 59 Jahre, die er in Schermbeck, Dorsten, Köln und Berlin verbrachte. Sein neuestes Projekt ist ein im Steidl Verlag herausgegebener Roman, der sich unter dem Titel „Wie wir uns lange Zeit nicht küssten, als ABBA berühmt wurde“ verklausuliert mit seinem Leben befasst. Mit seinem Leben als Schüler der Grundschule in Schermbeck, das er in seinem Roman Lippfeld nennt, und als Gymnasiast des Petrinum in Dorsten. Er beschreibt ausführlich und romanhaft seine gedanklichen und tatsächlichen Auseinandersetzungen mit seinen Lehrern.

Andreas Heidtmann: „Etwa 20 Prozent der Lehrernamen sind echt, die anderen sind Aliasnamen, um sie nicht bloßzustellen.“ Denn Heidtmanns romanhafte Reflexionen sind durchaus kritisch und daher auch ehrlich und nicht geschönt. Er beschreibt die damals noch vorherrschende „geballte Macht“ der Lehrer. Das macht seinen Roman auch zu einem Dokument und sicherlich findet sich der eine oder andere aus Schermbeck oder Dorsten in den 346 Seiten wieder.

Im Roman setzt sich der Autor mit seinen früheren Lehrern auseinander

Wer über den Kindsmissbrauch des am Dorstener Gymnasium Petrinum tätigen Franziskanerpaters Heribert Griesenbrock Bescheid weiß, muten die Passagen zumindest sonderlich an, in denen der Autor über die erotischen Bemerkungen des Paters im Religionsunterricht schreibt. Wohlgemerkt: Bis nach der Herausgabe des Buches Ende April 2020 wusste der Autor nichts über den von Pater Heribert Griesenbrock damals tatsächlich verübten Missbrauch mit ihm anvertrauten Jugendlichen im Internat des Franziskanerklosters. In Heidtmanns Buch ist zu lesen:

„Wenn Pater Heribert zu philosophischen Exkursen ansetzte, was häufiger geschah, sank der Wert der Begeisterungsskala unter null…“ Und dann ging es um intime Körperpflege. „Keiner von uns hätte gedacht, dass so ein heikles Thema in den Religionsunterricht gehörte oder zumindest von Pater Heribert dafür reklamiert würde.“ Pater Heribert erklärte, man solle das Genital nicht von der Körperreinigung ausschließen. „Einige waren verwirrt – weniger wegen des Ratschlags zur Körperpflege als wegen der Dürftigkeit der Information. Andere meinten, Pater Heribert habe freundlich umschreiben wollen, dass es erlaubt sei, unter der Dusche zu masturbieren…“

In der Tat, erst über 30 Jahre danach wurde nach dem Tod Pater Heriberts bekannt, dass dieser und andere Franziskanermönche im Duschraum des Internats ihren Penis den ihnen anvertrauten Jugendlichen zeigten, wie man ihn  wäscht und anderes. Ein Jugendlicher, der missbraucht wurde, meldete dies um 2010 dem Leiter des Franziskanerordens in München. Dieser überprüfte den Vorfall und speiste den anhaltenden Missbrauch mit 4000 Euro ab. Nachzulesen in „Dorsten-transparent“. Noch einmal bekräftigt: Dass diese Missbräuche in Heidtmanns Roman nicht vorkommen, ist kein Verschweigen. Der Autor hat es nicht gewusst, denn bis heute ist das Thema so gut wie tabu.

Mit dem Lessing-Preis des Freistaats Sachsen ausgezeichnet

Andreas Heidtmanns Familie, die bereits 1963 von Hünxe nach Altschermbeck zog, war stets nach Dorsten orientiert, da Altschermbeck damals noch zum Amt Hervest-Dorsten gehörte. Daher besuchte der Schüler Andreas nach der Grundschule in Schermbeck das Gymnasium Petrinum in Dorsten. Er erinnert sich gut an seine Mitschüler Lutz Käppel, Rüdiger Tüshaus, Marius Üffing und Dirk Westerrat, die auch in seinem Roman erwähnt werden, wie viele seiner Lehrer. Zwei Jahre vor dem Abitur wechselte er an eine Schule nach Gladbeck, wo er das Abitur machte. Danach absolvierte Andreas Heidtmann ein Klavierstudium unter anderem bei Pavel Giliklov in Köln sowie ein Studium der Germanistik und Philosophie in Berlin. Vom Berliner Kultursenat erhielt Andreas Heidtmann in den Jahren 1992, 1993 und 2000 ein Literaturstipendium. Nach dem Studium war er in Leipzig zunächst als Lektor und Autor tätig, wofür er von der Stadt Leipzig, in die er umgezogen war, 2002 ebenfalls ein Literaturstipendium bekam. 2005 gründete Andreas Heidtmann in Leipzig den „poetenladen“ für deutschsprachige Gegenwartsliteratur und 2006 die bis heute halbjährlich erscheinende Literaturzeitschrift „poet“ und richtete das Literaturportal „poetenladen“ ein (Foto). Dafür wurde er 2010 mit dem „Hermann-Hesse-Preis“ ausgezeichnet. Dazu Michael Braun in der Laudatio (Auszüge):

„Zeitschriftenmacher wie Andreas Heidtmann aus Leipzig – das sind die letzten Abenteurer des Geistes, unterwegs nicht nur auf allen Kontinenten der Weltliteratur, sondern auch in den Winkeln der Provinz, um dort die unentdeckten Talente der Gegenwartsdichtung aufzuspüren… Er hat mit dem Poetenladen im Internet eine gut besuchte Plattform für Gegenwartsliteratur geschaffen, die einen im Getümmel der Newcomer, Novizen und ambitionierten Talente einen verlässlichen Überblick liefert. Und er hat 2007 mit dem Literaturmagazin poet eine Zeitschrift gegründet, die auf jeweils rund 200 Seiten den allerjüngsten Metamorphosen der vielversprechenden Jungen Literatur auf sehr inspirierte Weise nachspürt…“

2011 bekam Andrea Heidtmann den Förderpreis zum „Lessing-Preis des Freistaates Sachsen“. Dazu Martin Hielscher: „Andreas Heidtmann hat das vielleicht beste deutschsprachige Literaturportal im Internet gestaltet.“  Und 2013 erhielt er den „Anerkennungspreis zum Initiativpreis für Kunst und Kultur“. Der „Lessing-Preis des Freistaates Sachsen“ (1993 von der Regierung gestiftet) wird alle zwei Jahre verliehen und würdigt im Geiste Lessings herausragende Leistungen auf dem Gebiet der Literatur und des Theaters. Die Verleihung findet auf Staatsebene statt. Die Auszeichnung knüpft an die Tradition des „Lessingpreises der DDR“ an, der von 1955 bis 1989 vom DDR-Kulturministerium vergeben wurde.

Muffige Keller, gepflegte Vorgärten, exzessive Musik mit Freunden

Andreas Heidtmann, Gründer und Betreiber des Verlags „poetenladen“, ist seit 2015 neuer Vorsitzender des Sächsischen Literaturrats, dem u. a. noch Janina Fleischer, Literaturredakteurin der Leipziger Volkszeitung, sowie Jörg Schieke, Redakteur bei MDR-Figaro angehören. Der Literaturrat sieht sich der Förderung und Pflege der Literatur und des literarischen Lebens in Sachsen verpflichtet. Trotz der vielen Zeit, die sein Online-Portal und seine Literaturzeitschrift kosten, schreibt Andreas Heidtmann selbst auch viel, auch Geschichten, die in Schulbüchern veröffentlicht werden. 2005 erschien im Athena-Verlag Oberhausen sein Buch „Storys aus dem Baguette. Einundzwanzig Geschichten“, 2007 „Die Kurzgeschichte auf dem Weg ins 21. Jahrhundert: Ein Fach Deutsch“ im Schulbuchverlag Schöningh, Paderborn. Wie eingangs bereits beschrieben, erschien Anfang 2020 im Steidl Verlag „Wie wir uns lange Zeit nicht küssten, als ABBA berühmt wurde“. Dieser Roman, von dem einige Betrachtungen und Erlebnisse des Autors auch in Schermbeck und Dorsten stattfinden, ist ein allein schon wegen dieser Inhalte ein lesenswertes Buch: Unglaubliches geschieht im Frühjahr 1974: Die schwedische Popgruppe  ABBA gewinnt den Eurovision Song Contest und wird über Nacht weltberühmt. Ben Schneider und seine Freunde wittern Verrat: Ihre musikalischen Helden heißen Hendrix, Lennon und Dylan, in deren Songs geht es um Existenzielles, um Revolte, Drogen und Utopien. Sie leiden darunter, dass ihnen fortan aus Hitparaden und Jugendclubs Waterloo entgegenschallt. Gegen die dörfliche Tristesse in Schermbeck alias Lippfeld hilft Ben manchmal nur das Spiel auf einem alten Klavier, das neben dem Grundig-Musikschrank wie ein Fremdkörper wirkt. Ein elektrisierendes Alter in einer dörflich entschleunigten Zeit, die Ben und seine Freunde jedoch nicht vor den Tragödien des Lebens bewahrt. Denn wo steht geschrieben, wie man ein Mädchen das erste Mal küsst, oder wie man verkraften soll, dass ein Klassenkamerad stirbt? Es beginnt ein Sommer der stillen Revolte und der ersten Liebe. Alles könnte so leicht sein, aber das ist es nicht – denn das Herz funktioniert anders als der Verstand und das Unbehagen ist allgegenwärtig, schielt aus muffigen Partykellern und gepflegten Vorgärten und lässt sich nur gemeinsam ertragen – mit Freunden, exzessiver Musik und der Hoffnung auf rauschhafte Momente („Wie wir uns lange Zeit nicht küssten, als ABBA berühmt wurde“, Leineneinband ISBN 978-3-95829-714-2, 1. Auflage 03/2020, 22 Euro).

Heidtmann erhält erste Manuskript-Einsendungen mit Corona-Texten

Als Literat, Herausgeber und Lektor muss Andreas Heidtmann  natürlich viel lesen. Die BILD-Zeitung Leipzig fragte ihn, wo er denn lese: „Überall, wo es geht, wenn ich gerade Zeit zum Lesen habe. Im Zug, auf dem Balkon, bei Verwandten, die mich langweilen, am Schreibtisch.“ Und dann erinnert er sich an das, was er in seiner Kindheit und Jugend in Schermbeck und Dorsten gelesen hat: „The Adventures of Tom Sawyer“, aber auch Wilhelm Busch, Karl May, griechische Sagen, Rübezahl, Erich Kästner.“
Was heißt Bücher verlegen in der Coronakrise. Dazu der Verleger Heidtmann: „Die Krise ist allgegenwärtig. Alle sind betroffen und viele zu besorgt, um Muße zu finden. Dennoch wird natürlich auch gelesen. Zurückgeblickt und vorausgeschaut. Nach der Krise wird vieles anders sein. Auch in der Literatur. Uns erreichen bereits erste Manuskripte mit Corona-Texten, was – literarisch gesehen – verfrüht scheint, aber auch die Wucht der Krise verdeutlicht, die vor den Schreibtischen nicht Halt macht.“ Andreas Heidtmanns „poetenladen“-Verlag setzt trotz der Widrigkeiten seine Produktion fort und vertreibt die Bücher im Online-Shop seines Verlags. Und wenn er Zeit hat, dann schreibt er nicht nur, dann denkt er auch zurück an seine Kindheit und Jugend in Schermbeck und Dorsten, was in seinem jetzt erschienen Debüt-Roman so geist- und anekdotenreich geschildert ist.

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