Dorstener Schulen auf dem Weg in die Digitalisierung. Es geht nicht nur um Hardware und Internetanschluss – entscheidend ist, wie die neuen Möglichkeiten im Unterricht genutzt werden

Whiteboard in der Neuen Schule Dorsten; Foto Claudia Engel (DZ)

Von Helmut Frenzel

10. November 2019. – Alle reden davon, wie wichtig die Digitalisierung der Schule ist. Dafür stellt die Bundesregierung den Schulen in den nächsten fünf Jahren fünf Milliarden Euro zur Verfügung, Länder und Kommunen müssen ihrerseits 500 Millionen Euro beisteuern. Der überwiegende Teil dieses Geldes ist für die technische Infrastruktur vorgesehen, Kabel, Router und Schaltschränke. Die Schulen sollen überall auf schnelles Internet zugreifen können. Auch interaktive Tafeln (Whiteboards) sind förderfähig und in begrenztem Umfang digitale Endgeräte (Laptops, Tablets). Für diese sieht der Digitalpakt der Bundesregierung einen Anteil von maximal 10 Prozent vor. Die Mittel aus dem Digitalpakt sollen vorrangig für die Schaffung der technischen Voraussetzungen verwendet werden. Der darauf aufbauende Einsatz von Endgeräten ist dann Sache der Länder und Kommunen. Den Schulträgern obliegt es, Mittel aus dem Digitalpakt zu beantragen. Allerdings hat die Sache einen Haken: Die Schulen müssen dazu Medienkonzepte vorlegen und die Frage beantworten, wie sie die gewünschte digitale Infrastruktur nutzen wollen.

Verdienstvoll – der Große Schulcheck der „Dorstener Zeitung“

Das setzt die  Schulen unter Handlungsdruck. Sie müssen beweisen, wie aktiv sie im Hinblick auf die Digitalisierung sind. Die Öffentlichkeit will schnelle Fortschritte sehen und die Eltern erwarten es. Sie sehen die Kinder in ihrer zukünftigen beruflichen Entwicklung benachteiligt, wenn die Schule sie nicht auf die digitale Welt vorbereitet. Fertige Lernkonzepte gibt es aber nicht oder nur bruchstückhaft. Jede Schule ist auf sich alleine gestellt. Entsprechend diffus ist das Bild, das auch die Dorstener Schulen in dieser Hinsicht abgeben. Die „Dorstener Zeitung“ (DZ) stellte kürzlich den „Großen Schulcheck“ vor, an dem alle weiterführenden Schulen in Dorsten und im Einzugsgebiet teilgenommen haben (Bild links). Er soll den Eltern von Viertklässlern helfen, eine Entscheidung zum weiteren Schulweg ihres Kindes zu treffen. Der „Schulcheck“, jeweils eine ganze Zeitungsseite für eine Schule, gibt einen guten Überblick darüber, wie jede einzelne Schule aufgestellt ist und wie sie sich selbst sieht. Er macht zugleich Unterschiede zwischen den Schulen in allen schulischen Bereichen deutlich und das gilt auch für die Digitalisierung. Alle beteiligten Schulen haben für den Schulcheck eine Stellungnahme zum Stand der Digitalisierung ihrer Schule und ihren Plänen abgegeben. Sie reichen von einem 10-Zeiler (Neue Schule Dorsten) bis zu einer ausführlicheren Darstellung der aktuellen Ausstattung und den Wünschen für deren Weiterentwicklung (Petrinum). Wer die Stellungnahmen der Schulen aufmerksam liest und vergleicht, der versteht, dass die künftige IT-Ausstattung etwas mit dem pädagogischen Lernkonzept der Schule zu tun hat.

Unterschiede sprechen gegen Standardisierung der IT-Ausstattung

An diesem Punkt entzündet sich nun in Dorsten ein Streit zwischen dem Gymnasium Petrinum und der Stadt. Die Stadt möchte einen „einheitlichen und nachhaltigen Standard für die IT-Ausstattung und den Ausbau der Infrastruktur“. Dabei geht es um Ausstattung aller Klassenräume mit interaktiven Whiteboards und das endgültige Aus für die traditionelle Wandtafel. Nur durch einheitliche Hardware seien die Folgekosten für Wartung und Support tragbar. Auf die Unterschiede der pädagogischen Konzepte der Schulen will man offenbar keine Rücksicht nehmen. Lehrer und Schulpflegschaft des Petrinum sind dagegen. Die Vorgehensweise der Stadt widerspricht auch dem Verfahren, das der Digitalpakt vorsieht: Die Schulen sollen Medienkonzepte im Hinblick auf den Einsatz der neuen Möglichkeiten entwickeln – die Stadt als Träger der Schulen beantragt die Mittel. Es gibt gute Gründe, auf dem Verfahren zu bestehen, das die Bundesregierung vorgegeben hat: es macht keinen Sinn, einer Schule eine digitale Ausstattung überzustülpen, wenn das Lehrerkollegium nicht dahintersteht und sie am Ende nicht für den Unterricht nutzt.

Kenntnisstand des Lehrpersonals als begrenzender Faktor

Es kommt ein weiterer Aspekt ins Spiel. Die Kenntnisse im Umgang mit digitaler Technik sind unter Lehrern mutmaßlich nicht anders verteilt als in der Gesamtbevölkerung. Das geht oft nicht über die Bedienung eines PCs oder eines mobilen Endgeräts für alltägliche Zwecke hinaus. Das genügt aber nicht, um in der Schule Unterricht bei optimalem Einsatz der digitalen Möglichkeiten zu geben. Wie vertraut sind Lehrer aber mit den Möglichkeiten eines interaktiven Whiteboards? Wer hier Illusionen hegt, der sei an die Lernvideos des Virtuellen Zentrums für Lehrerbildung (Frankfurt) auf Youtube verwiesen. Diese richten sich wohlgemerkt an Lehrer. Darin erklärt man ihnen in einer Serie von Videos, was man mit Whiteboards im Unterricht alles anstellen kann. Offenbar gibt es dafür Bedarf. Man ist sich weithin einig, dass der Erfolg der Digitalisierung vor allem von der Ausbildung der Lehrer abhängt. Aber das kostet Geld und Zeit. Unterdessen dreht sich in der öffentlichen Diskussion alles um die technische Ausstattung. Gute Ausstattung gleich gute Bildung? Zweifel sind angebracht.

Wofür stehen die digitalen Whiteboards?

Aber das hindert Schulen nicht daran, technische Details zur Eigenwerbung zu nutzen. Die Neue Schule Dorsten (Foto Claudia Engel, DZ) hat von Beginn an damit geworben, dass ihre Klassenräume über Whiteboards verfügen. Offenbar sah man im bloßen Vorhandensein der Whiteboards und ohne dass je erklärt worden wäre, für welche unterrichtlichen Zwecke sie eingesetzt werden, ein Argument, die Kinder auf diese Schule zu schicken. Im Schulcheck war zu lesen: „Alle Klassen sind mit leistungsstarken Smartboards ausgestattet.“ Und der Bürgermeister preist die Vorzüge der Neue Schule so: „Digitale Tafeln (Whiteboards), eine nagelneue Mensa, neue Tische und Stühle.“ Definiert sich so Unterrichtsqualität? Whiteboards gleichauf mit neuen Tischen und Stühlen? Whiteboards gleich modern gleich gut? Diese Verkürzung wird der Sache nicht gerecht, um die es geht. Das auch noch aus einem anderen Grund: Die Neue Schule hat sich explizit auf ein“ individuelles Unterrichtskonzept“ festgelegt – in Anlehnung an die Sasse-Matrix. Nach dieser Matrix werden den Schülern für einzelne Lerngegenstände Aufgaben nach zwei Kriterien zugewiesen, der kognitiven Komplexität und der thematischen Komplexität, jeweils in fünf Niveaustufen. Zuvor werden die Schüler entsprechend eingestuft. Auf dieser Grundlage erhält dann jeder Schüler die Aufgaben, die seinem Lernstand entsprechen.

Wie Individualisierung des Unterrichts funktioniert

Nach diesem Konzept erhält jeder Schüler andere Aufgaben als sein Nachbar. Die Aufgaben bestehen aus Arbeitsblättern oder anderen Materialien, die der Schüler, jeder einzelne für sich, bearbeitet. So funktioniert „Binnendifferenzierung“ innerhalb einer Klasse: jeder bekommt auf ihn allein zugeschnittene Aufgaben. Manchmal wird es auch möglich sein, kleine Lerngruppen mit gleichen Aufgaben zu bilden. Das ist spätestens dann unmöglich, wenn eine Klasse jahrgangsübergreifend zusammengesetzt ist. So zum Beispiel an der Montessori-Grundschule in Wulfen. Dort sitzen an einem Sechser-Tisch Schüler vier verschiedene Altersjahrgänge, der Erstklässler neben dem Viertklässler. Jeder der Schüler bearbeitet etwas anderes, läuft zu einem Schrank mit Ordnern, heftet sein bearbeitetes Blatt ab und holt sich ein neues Arbeitsblatt, das er sich vornimmt. Die Lernbegleiterin läuft von Tisch zu Tisch, mal wird sie durch ein Handzeichen gerufen, ansonsten schaut sie den Schülern über die Schulter oder flüstert mit ihnen. Ein Gespräch des Lehrers mit der gesamten Klasse findet nicht statt.

Lernkonzept bestimmt Anforderungen an die digitale Ausstattung

Was hat das mit der Digitalisierung zu tun? In diesem „modernen“ Lernkonzept braucht man keine Tafel mehr. Weder eine Kreidetafel alten Stils noch ein Whiteboard. Es gibt keinen Lehrstoff mehr, der für alle Schüler einer Klasse gemeinsam präsentiert wird, und deshalb gibt es in der Montessori-Grundschule zwar noch eine Wandtafel, aber die ist zugeklebt mit  allerlei Informationen und anderem. Für den Unterricht wird sie nicht mehr gebraucht. Und dann stellt sich die Frage: Wofür braucht die Neue Schule Dorsten mit ihrem „individuellen Unterrichtskonzept“, die explizit nach dem gleichen Lernkonzept ausgerichtet ist, digitale Whiteboards? Sie braucht etwas anderes: Sie braucht künftig Tablets für jeden Schüler. Denn die Arbeitsmaterialien, für deren Vorbereitung die Lernbegleiter jetzt viel Arbeit und Zeit investieren müssen, wird man künftig aus den entsprechenden Portalen im Internet herunterladen können. Die Künstliche Intelligenz lässt grüßen. Dafür benötigt man WLAN und ein digitales Endgerät für jeden Schüler.  Die Auswahl der Aufgaben stellt der Server auf der Grundlage der Lernfortschritte des Schülers entsprechend der Sasse-Matrix zur Verfügung. Und weil dieser Weg nur logisch ist, heißt es im Schulcheck der Neuen Schule denn auch: „WLAN und der Einsatz von Tablets werden im 1. Halbjahr [2020] umgesetzt.“ Was hier passiert ist eLearning, elektronisch unterstütztes Lernen und gleichbedeutend mit der Individualisierung der Lernens. Hier geht es nicht um Computerkenntnisse oder Medienkompetenz, sondern um den Ersatz der Schulbücher durch das Tablet. Das Tablet wird zum Lernmittel. Wofür braucht die Neue Schule das Whiteboard?

Petrinum: Digitale Technik ersetzt nicht guten Unterricht

Am Gymnasium Petrinum (Foto) folgt der Unterricht anderen Vorgaben. Die Stellungnahme im Schulcheck beginnt mit einer Selbstverpflichtung: „Als älteste weiterführende Schule der Stadt Dorsten verbindet das Petrinum klassische mit moderner Bildung und möchte seinen Schülerinnen und Schülern sowohl solide Werte als auch einen guten Start in die Zukunft vermitteln.“ Digitale Ausstattung könne keinesfalls guten Unterricht ersetzen. Sie diene dazu, innovativen, anschaulichen Unterricht zu ermöglichen und die Jugendlichen in eigenständigem, verantwortungsbewusstem und kritischem Denken zu unterstützen und damit zukunftsfähig zu machen. Die digitale Ausstattung wird als Werkzeug für gute Unterrichtsgestaltung verstanden. Dazu gehört gewissermaßen als Grundlage das Fach Informatik: sie vermittelt Computerkenntnisse, befasst sich mit Datenstrukturen, Datenorganisation und Programmieren. In den anderen Fächern bedient man sich der Möglichkeiten der digitalen Technik zur Vermittlung des Lernstoffs. Dies geschieht offenbar, – ohne dass es explizit gesagt wird -, in einem lehrerzentrierten Unterricht. Dem entspricht die technische Ausstattung. Die Schule verfügt über mehrere Computerräume. Die Naturwissenschaftsräume sind mit digitalen Whiteboards und großen Wand-Monitoren ausgestattet. An den herkömmlichen Wandtafeln hält die Schule fest: beide Medien ergänzten sich optimal, so lautet die Begründung. Für die Zukunft wünscht sich das Petrinum die großen Monitore und Dokumentenkameras in allen Räumen. Das Ziel: überall bestmögliche und variable Unterrichtsgestaltung ermöglichen.

Auf die Lehrer kommt es an

Die Lernkonzepte der beiden Schulen, der Neuen Schule und des Petrinum, könnten nicht weiter auseinanderliegen. Im „Großen Schulcheck“ der DZ stellen sie hinsichtlich ihres pädagogischen Ansatzes so etwas wie die Extreme in der Dorstener Schullandschaft dar. Dazwischen liegen die anderen weiterführenden Schulen mit ihren jeweils eigenen Vorstellungen von gutem Unterricht. Sie alle unter den Primat einer einheitlichen digitalen Ausstattung zu zwingen macht wenig Sinn. Die Stadt, die ja sonst großen Wert auf die Beteiligung der Bürger legt, sollte genau hinhören, wenn die Schulen ihre Vorstellungen zur Digitalisierung vortragen. Es geht am Ende nicht um die Schulen und auch nicht um die Finanzen der Stadt. Es geht um unsere Kinder und darum, dass sie und wie sie die bestmögliche Bildung erhalten. Und weil das so ist, sollte sich der Fokus der öffentlichen Diskussion allmählich von der technischen Ausstattung lösen und sich dem Thema der Vorbereitung der Lehrer widmen. Künftig wird es nicht mehr genügen, dass ein oder zwei technikaffine Mitglieder des Lehrerkollegiums sich um alles kümmern, was mit digital und Computer zu tun hat. Denn was nützt die ganze IT-Infrastruktur, wenn die Lehrer nicht in der Lage sind, die neuen Möglichkeiten der Digitalisierung für einen besseren Unterricht zu nutzen? Gelingt es nicht, das sicherzustellen, besteht die Gefahr, dass der gut gemeinte Digitalpakt der Bundesregierung als große Geldverschwendung endet.

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Ein Kommentar zu Dorstener Schulen auf dem Weg in die Digitalisierung. Es geht nicht nur um Hardware und Internetanschluss – entscheidend ist, wie die neuen Möglichkeiten im Unterricht genutzt werden

  1. Klaus Schakulat sagt:

    Vielen Dank für diesen aufschlußreichen Artikel. Mich verwundert nur, daß aus dem digitalen Bildungspakt gerade in NRW, bislang so gut wie kein Geld abgerufen wurde. Die technische Ausstattung unserer Schulen ist die eine Sache. Aber gerade gestern konnte man in der Zeitung einen Bericht über marode Schulmöbel lesen (Überschrift: Stühle brechen zusammen)..
    Schaut man sich in manchen Klassenräumen um, fühlt man sich an die eigene Schulzeit erinnert. Und die liegt immerhin bei mir schon 50 Jahre zurück. Mein Vorschlag: Umgehend Geld aus dem Digitalpakt zweckentfremden, um damit die Schulmöbel endlich auf den neusten Stand zu bringen.
    Hier darf es nach meiner Meinung in allen Dorstener Schulen nur einen Standard geben. Egal ob das Schulgebäude gerade aufwändig saniert wurde, oder nicht! Allerdings werde ich den Verdacht nicht los, dass die Stadt bewusst nicht in einige Schulen investiert, und somit auf diesem Weg Anmeldezahlen zu Gunsten favorisierter Schulen zu steuern. Auch so kann man sich mancher Probleme entledigen. Mit Bildungsgleichheit hätte ein solches Vorgehen aber nichts zu tun.

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