Steckrübenwinter vor 100 Jahren – Mit der Kohlrüben-Suppe morgens, dem Kohlrüben-Kotelett mittags und dem Kohlrüben-Kuchen abends die Hungersnot von 1916/17 überwunden

Von Wolf Stegemann

In die Geschichte eingegangen ist die Steckrübe durch den so genannten deutsche „Steckrübenwinter“ während des Ersten Weltkriegs 1916/1917 („Früh Kohlrübensuppe, mittags Koteletts von Kohlrüben, abends Kuchen von Kohlrüben.“) In diesem Winter spitzte sich der Mangel an Lebensmittelversorgung dramatisch zu. Die Kartoffelernte im Herbst 1916 war eine Missernte gewesen. In vielen Städten kam es daher zu Unruhen. Die Steckrübe wurde zum Hauptnahrungsmittel und gab diesem Winter den Namen. Sie waren zuvor hauptsächlich als Schweinefutter angebaut worden.

Kinder, die in St. Agatha zur Beichte gingen, rochen nach Steckrüben

In Dorsten wurden Steckrüben und auch Steckrübensuppen an die hungernde Bevölkerung ausgegeben. Dank des Organisationstalents von Bürgermeister Bernhard Lappe und des früheren Magistratsmitglieds Ferdinand Jungeblodt, der sich besonders um soziale Belange kümmerte und für die Armen einsetzte, konnte die Bevölkerung gut durch den „Steckrübenwinter“ kommen. Pfarrer Ludwig Heming schrieb 1917 in die Chronik von St. Agatha:

„Gut, dass das Jahr 1917 zu Ende geht. Es war ein Hungerjahr. Unsere Kinder sehen erbärmlich aus und sind vollständig unterernährt. Im Volksmund nannte man dieses Jahr Steckrübenjahr. Alle Speisen waren mit Steckrüben durchsetzt, selbst das Brot. Ich erinnere mich noch, dass einmal bei den Kinderbeichten sämtliche Kinder nach Steckrüben rochen. Es wurde mir fast übel dabei.“ 

Die Ernährungsnot löste im rheinisch-westfälischen Industriegebiet eine Streikwelle aus, die bis Juli 1917 andauert und die teilweise von Straßendemonstrationen, Krawallen und Plünderungen begleitet wird. Allerdings tragen die Protestaktionen keinen politischen Charakter. So fordern Sprecher auf einer Belegschaftsversammlung der Gewerkschaft „Auguste Victoria“ in Marl höhere Löhne und eine bessere Versorgung mit Lebensmitteln, betonen jedoch: „Wir wollen keinen Streik, wir haben Hunger“ (LWL-Portal Westfälische Geschichte).
Im Dülmener Gefangenenlager starben rund 750 kranke und verletzte Russen an Unterernährung im „Steckrübenwinter“ 1916/17. In ganz Deutschland waren es über 750.000 Menschen. Die Toten in „Dülmener Lager“ konnten nicht sofort begraben werden, da der Boden bis zu zwei Meter tief gefroren war. Sie wurden „tiefgefroren“ erst nach drei Wochen auf den Lagerfriedhof beigesetzt.

Sterblichkeit in der Bevölkerung nahm nach dem Hungerwinter rapide zu

Betrachtet man ab diesem Hungerwinter die Sterblichkeitszunahme der weiblichen Bevölkerung allein, so zeigen sich beeindruckende Steigerungen in allen Altersgruppen insbesondere nach 1916. Bei Frauen im mittleren erwerbsfähigen Alter zwischen 25 und 45 Jahren stieg die Sterblichkeit von 1913 bis 1916 auf 7,5 Prozent und bis 1917 auf 33,7 Prozent. Im gleichen Zeitraum stieg die Sterblichkeit der Alterskohorte der 75- bis 90-jährigen Frauen um 115 Prozent (1916) und um 162 Prozent bis 1917. Der „Steckrübenwinter“ 1916/17, in dem die Versorgungslage auf ein Kalorienminimum gesunken war, bedeutete für alle Altersstufen bis auf die Gruppe der Säuglinge ein sprunghaftes Ansteigen der Übersterblichkeit, verglichen mit dem letzten Friedensjahr 1913.

Auch Kaffee, Kuchen und Marmelade aus Steckrüben

Patriotisch-satirische Postkarte

Steckrüben dienten als Basis für die verschiedensten Gerichte, 1917 erschienen eigens Steckrüben-Kochbücher. So gab es Rezepte für Steckrüben-Marmelade, Aufläufe, Suppen, Sauerkraut-Ersatz aus Steckrüben und sogar Steckrüben-Kaffee. Das Rezept lautete: „Steckrüben raspeln und im Ofen trocknen. Die getrockneten Rübenschnitzel werden dann durch eine Kaffeemühle gedreht. Wie normales Kaffeemehl behandeln.“ Mit Bezeichnungen wie „Ostpreußische Ananas“ sollte dieses Gemüse, das vor allem als Viehfutter genutzt wurde, der Bevölkerung schmackhaft gemacht werden.  Davon abgeleitet wurden auch Bezeichnungen wie „Mecklenburgische Ananas“ üblich. Da Steckrüben in der Bevölkerung trotz der schlechten Ernährungslage unbeliebt waren, hatte die Reichskartoffelstelle am Ende des Winters 1917 noch einige Millionen Zentner Steckrüben übrig, die nicht verteilt worden waren. Sie wurden zu Dörrgemüse und Rübenmehl weiterverarbeitet. Dieses Mehl wurde dann mit Kartoffelmehl und mit Maggi-Suppenwürfeln gemischt und als „Vollkost“ in den Handel gebracht, wobei jede Familie eine gewisse Menge abnehmen musste, um andere Lebensmittel kaufen zu können.

Steckrübe als Ersatznahrungsmittel in Notzeiten

Die Steckrübe ist unter vielen Namen bekannt: Wruke, Kohlrübe, Butterrübe, Erdkohlrabi, Unterkohlrabi, Untererdkohlrabi, Ramanken, Bodenkohlrabi, Schwedische Rübe, Ostpreußische Ananas oder auch Mecklenburgische Ananas. Sie wird als Gemüse genutzt und unterscheidet sich von der Speiserübe. Steckrüben haben eine annähernd runde Form, eine grüne bis gelbliche, manche Sorten auch rötliche, derbe Schale und weißliches bis gelbes Fleisch mit einem herbsüßen, an Kohl erinnernden Geschmack. Die Rüben kamen im 17. Jahrhundert aus Skandinavien nach Deutschland. Daher ihr Name „Schwedische Rübe“. Der tatsächliche Ursprung der Steckrübe ist jedoch ungeklärt. Die Kohlrübe war schon vor ihrem Einsatz als Nahrungsmittel in Notzeiten der Gegenstand kulinarischer und sozialer Betrachtungen. Steckrüben waren mehrfach die letzte Nahrungsreserve für einen Großteil der Bevölkerung.

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Ein Kommentar zu Steckrübenwinter vor 100 Jahren – Mit der Kohlrüben-Suppe morgens, dem Kohlrüben-Kotelett mittags und dem Kohlrüben-Kuchen abends die Hungersnot von 1916/17 überwunden

  1. Ho Fame sagt:

    Habe einen Zentner Steckrüben zu verkaufen. Hat jemand Interesse?

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