„Nur düstere Zukunftsvisionen“ – Philosophische Antworten im Gespräch mit dem Songpoeten Leonard Cohen vor 23 Jahren am Düsseldorfer Flughafen

Leonard Cohen etwa zur Zeit des Interviews

Vorbemerkung. Vor wenigen Tagen ist der weltbekannte Sänger Leonard Cohen 82-jährig in Kanada verstorben. Alle Nachrichtensender und die Zeitungsfeuilletons berichteten zum Teil seitenlang. Die „Süddeutsche Zeitung“ schrieb „Ein Licht erlischt“. Leonard Cohen, so die SZ, war in Kanada ein Großer, in den USA einer von vielen und in Europa ein Held. Und Dorsten? Leonard Cohen stellte sich 1993 auf dem Düsseldorfer Flughafen dem Dorstener Journalisten Wolf Stegemann für ein Exklusiv-Interview zur Verfügung. Aus dem gewöhnlich steifen Rede- und Antwortritual wurde ein fast freundschaftliches Gespräch, das länger dauerte, als vorgesehen. Leonard Cohen musste über Lautsprecher mehrmals zu seinem Flugzeug gerufen werden. Das Gespräch wurde in der Zeitschrift „Schalom“ des Jüdischen Museums Westfalen veröffentlicht. Obgleich Journalisten nicht alte Artikel neu veröffentlichen sollten, machen wir hier eine Ausnahme, weil Cohens Zukunftsvisionen, die er vor 23 Jahren machte, durch die aktuellen politischen Entwicklungen bestätigt wurden. Hier der Artikel vom März 1993:

Ergreifende Musik und Texte von intensiver Leuchtkraft

„Vielleicht sollte ich dieses Land ganz schnell wieder verlassen“, murmelt Leonard Cohen. Mit seiner Prophezeiung „First We Take Man­hattan, Then We Take Berlin“ hatte der 58-jährige Songpoet aus Ka­nada schon vor Jahren den Zusammenbruch des Sowjetimperiums mu­sikalisch vorweg­genommen. Doch richtig froh kann er nicht sein, recht behalten zu haben. Die Zukunft der Welt malt der notorische Melancholiker in den düstersten Farben: „The Future“ heißt sein faszinie­rendes neues Album, das er im Frühjahr auch live vorstel­len will. Ergreifende Musik und Texte von intensiver Leuchtkraft – Leonard Cohen versteht es wie kein anderer, den Geist unserer „Endzeitge­sellschaft“ auf die Spiellänge einer Compact Disc zu ban­nen.

Wenn er etwas sagte, relativierte er mit: „I’m crazy, hey?“

Leonard Cohen ist ein ruhi­ger, nachdenklicher Ge­sprächspartner. Bei all seinen dunklen Prophezeiungen spielt oft ein ironisches Lä­cheln um seine Mundwinkel, und gelegentlich relativiert er seine Ausführungen mit Sät­zen wie: „I’m crazy, hey?“

Den Grund für den Nieder­gang unserer politischen Kul­tur sieht Cohen in der Unfä­higkeit der Menschen, mit ih­rer Freiheit umzugehen: „Sie haben eine Scheißangst da­vor.“ Unsere Nazivergangen­heit war stets präsent für den jüdischen Kanadier, der in den sechziger Jahren mit Songs wie „Suzanne“ zu Weltruhm gelangte. Die Re­naissance des Rechtsradika­lismus sieht er jedoch nicht als ein rein deutsches Phäno­men.

„Ein gewaltiges Unwetter, ein furchtbarer Blizzard weht in unser Haus und hat das Gleichgewicht unserer Seelen zerstört. Niemand wird künf­tig mehr einen wirklichen Frieden erleben“, erläutert Leonard Cohen seine Zu­kunftsvision. Damit meint er nicht so sehr die Tagespolitik, sondern die allgemeine Ent­wicklung dessen, was man Zeitgeist nennt. Dieser geht in Richtung Extremismus, dia­gnostiziert Cohen; das Prin­zip des Hasses und der einfa­chen Lösungen greift um sich. „Ich habe erlebt, wie das ab­läuft. Wenn sich die Lebens­situation verschlechtert, klammern sich die Menschen an die Dinge, die ihnen am nächsten stehen. Ich bin Jude, zum Beispiel. Jemand anders sagt: Ich bin Weißer. Ich bin schwarz. Dritte Welt. Egal, was es ist – diese Identifika­tionsmuster sind sehr nahe­liegend, verlockend und ge­waltträchtig.“

„Politsongs machen die Welt schlechter“

Vorbei sind die Zeiten, als man meinte, die Welt noch mit einem Protestsong aus den Angeln heben zu können. Trotz der vielfachen politi­schen Bezüge in seinen Tex­ten erschaudert Cohen bei dem bloßen Gedanken an Lie­der mit expliziten Botschaf­ten: „Einen politischen Song zu machen, ist so ziemlich das Schlimmste, was man tun kann. Man zwingt die Leute so in eine extreme Lage hin­ein, und dann werden sie ir­ritiert und sehr ungemütlich. Politsongs machen die Welt schlechter.“ Noch nicht ein­mal Stellung will Cohen in seinen Liedern beziehen – nur darstellen, was ist und vor al­lem, was er empfindet.

Cohen blieb eigentlich unberührt von der Entwicklung der Musik

Seit der Mitte der achtziger Jahre hat sich musikalisch viel verändert bei Leonard Co­hen, der nach eigenem Bekun­den früher nur sehr ungern Musik gehört hat und der des­halb immer unberührt blieb von der Entwicklung der ak­tuellen Popmusik. Allenfalls Bob Dylan, Ray Charles und Countrymusik fanden Gnade vor seinen Ohren. Doch nun überrascht der einst so karge Folkie mit opulenten Arran­gements und vor allem sehr modern anmutenden Computerklängen. „Das liegt an meinen Kin­dern“, nennt Cohen den Grund für diese Entwicklung. „Dadurch höre ich quasi ge­zwungenermaßen auch die Popmusik von heute. Das bleibt gar nicht aus.“ Eine ganz andere, lebensfrohe Sei­te von Leonard Cohen äußert sich in seinen Liebesliedern, die ein Gegengewicht zu sei­nen politischen Songs bilden. Ergreifende Melodien und warme Arrangements ver­dichten sich in Stücken wie „Lights As The Breeze“ und „Waiting For The Miracle“ zu einem Soundteppich mit un­verhohlen erotischen Texten.

„Mein Album ist viel erotischer als das von Madonna“

„Das stimmt“, nickt Cohen. „Ziel meiner Arbeit ist es ganz definitiv, die Säfte zum Flie­ßen zu bringen. Denn im Grunde, glaube ich, machen wir alle das, was Madonna macht. Nur – mein Album ist viel erotischer als das von Ma­donna. Warum? Das weiß ich nicht. Ich habe nur das Video gesehen. Ich habe es mir an­geschaut, und es hat mich überhaupt nicht angemacht. Ich habe nicht das geringste Bedürfnis verspürt, jemanden anzurufen und ein Date zu machen.“

„Nur in Frauen finden wir Männer unsere Erfüllung…

Früher erklang Cohens traurige Stimme, die heute durch ein rau-laszives Tim­bre erheblich gewonnen hat, in den durch Räucherstäb­chen vernebelten Zimmern bunt gekleideter Hippiemäd­chen. Heute – so meint der ge­reifte Bonvivant zumindest – sind es nicht nur Frauen, die sich für seine Lieder begei­stern. Doch aus seiner Hoch­achtung für das schöne Ge­schlecht macht Cohen kein Geheimnis. „Nur in Frauen finden wir Männer unsere Er­füllung. Daher kommt auch immer wieder mein Bedürf­nis, Liebeslieder zu schrei­ben. Das machen wir doch nur, um ein Lächeln in das Gesicht einer Frau zu zau­bern. Dafür macht man doch alles – immer und überall.“

(Ausriss)

Anmerkung: Das aktuelles Album Leonard Cohens, von dem hier die Rede ist, war 1993 „The Future“ (Sony Music). – Der Text entnommen der „Schalom“-Ausgabe Nr. 21 (6. Jahrgang). „Schalom“ ist die Zeitschrift des Jüdischen Museums Westfalen, die damals von Anke Klapsing und Wolf Stegemann redaktionell erarbeitet, vom Verlag „Ruhr Nachrichten“ die Satzherstellung und von der Kreisverwaltung Recklinghausen der Druck gesponsert wurde.
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