Sie steht mit Hannibal, Karl dem Großen, Napoleon, Goethe und vielen anderen in einer Reihe: Gabriele Reiß überquerte in 40 Tagen die Alpen vom Starnberger See bis Venetien – und schrieb darüber ein Buch

Gabriele Reiß - hoch hinauf und tief hinunter; Foto: privat

Von Wolf Stegemann

23. September 2016. – Die einen gehen in die Sauna, schwitzen vor sich hin, die anderen meditieren, wieder andere klettern auf Berge oder segeln mit dem Boot an der Küste entlang, anderen wiederum reicht es, einmal tief durchzuatmen, um den Geist frei zu machen. Gabriele Reiß hat für sich gleich zwei Methoden entdeckt, den Geist zu befreien: Das Bergwandern in bester Luft und das Schreiben darüber zuhause in Dorsten. Sie wandert nicht etwa im Bergischen Land oder im Sauerland, sondern in den Alpen. Obwohl sie Mitglied im Deutschen Alpenverein ist, geht sie jedoch nie in Gruppen, sondern immer zu zweit oder auch mal allein. 39 dieser Gebirgswanderungen liegen bereits hinter ihr und weitere vor ihr. Sie umrundete bereits zweimal den Watzmann-Stock in Berchtesgaden, wanderte im Rätikon, kennt dort alle Übergänge, machte Touren im Unterengadin. 2017 steht die Schesaplana in den Schweizer Alpen an, ein Dreitausender. Den hat sie schon zweimal begangen.

Gabriele Reiß: Berge – „wie eine Liebschaft fühlt sich das an“

Gabriele Reiß und Heike Krüger

Die Wanderung im letzten Jahr war ein Höhepunkt. Denn Gabriele Reiß überquerte mit ihrer Wanderfreundin Heike Krüger aus Klein Reken und einem sechs Kilo schweren Rucksack in 40 Tagen zu Fuß die Alpen von Norden nach Süden, vom Starnberger See bis Bardolino am Gardasee in Venetien. Das sind runde 700 Kilometer auf von ihr selbst zusammengestellter Route und 80 Kilometer mehr, die Goethe über die Alpen zurücklegte. Die 40 Tage machten nicht nur ihren Geist frei, sondern weckten auch eine unstillbare Sehnsucht nach Freiheit, Alltagsvergessenheit und Naturversessenheit, nach Überwindung von Grenzen, wenn man vor dem Dreitausender steht. Berge rufen. Das wusste schon der Südtiroler Luis Trenker im Film „Der Berg ruft!“. Ihre Sehnsucht nach den Bergen beschreibt Gabriele Reiß so: „Am lautesten rufen sie mich, wenn ich auf einer Revierhalde stehe. Ich sehne mich nach den Bergen und es kommt mir vor, als warteten sie auf mich – wie eine Liebschaft fühlt sich das an.“
Der Rucksack ist dann immer dabei. 44 Teile stehen auf ihrer Packliste – Regenzeug und Wechselkleidung, Taschenmesser und Taschenlampe, Notfalldecke und Wanderapotheke  und so vieles andere wie Spikes, die unter die Schuhe zu schnallen sind. Vor Jahren war der Rucksack noch zwölf Kilo schwer, den Gabriele Reiß hinauf und hinunter zu schleppen hatte. „Mittlerweile brachte die Erfahrung das Gewicht des Rucksacks auf gerade noch sechs Kilo Gewicht“, sagt sie. Gefährliche Situationen? Wettereinbrüche, Firnschnee an steilen Hängen, unbefestigte Wegabschnitte. In den Brenta-Dolomiten des Trentinos hatten Gabriele Reiß und Heike Krüger ein Tal durchwandert, in dem ausgewilderte Braunbeeren lebten und zu der Zeit ein einzelner Wolf. Gesehen hatten sie aber keines der Tiere.

Goethes Bericht über seine Alpenüberquerung fiel kärglich aus

Hannibal hatte große Schwierigkeiten

Die Alpen wurden oft überwunden. Nicht, um den Geist freizumachen, sondern um Kriege zu führen, wirtschaftliche Macht auszuüben, um mit Gebeten auf den Lippen nach Rom und anderswo hinzupilgern oder nur, um sich vom Papst die Krone auf das gesalbte Haupt setzen zu lassen, wie Karl der Große im Jahr 800. Vor ihm zog 283 v. Chr. Hannibal mit seinen Elefanten über die Berge, von denen und seinen 50.000 Fußsoldaten nur die Hälfte ankamen. Dann machte sich Martin Luther 1510/11 auf die beschwerliche Reise, nach ihm war im Jahr 1800 Napoleon im Alpinen unterwegs und viele andere auch. Etliche schrieben darüber Bücher oder verarbeiteten ihre Alpenüberquerung in Romanen wie Jean-Jacques Rousseaus „Julie oder Die neue Heloise“, was damals die Leser veranlasste, sich dieses verklärte Alpen-Paradies anzuschauen. Dagegen fiel die Beschreibung Johann Wolfgang von Goethes, der im September 1786 den Brennerpass auf seiner „Reise nach Italien“ passierte, eher karg aus. Er überlebte die Reise, denn sechs Jahre später saß er am Dorstener Marktplatz.

Sie nimmt die Leser mit – es geht über Berge und durch Täler

Auf 455 Seiten die Alpenüberquerung; Foto: Stegemann

Auch die Dorstenerin Gabriele Reiß schrieb ein in diesem Jahr erschienenes Buch, das allerdings nicht karg ausfiel. Unter dem Titel „Steinreich, vogelfrei – Ein Weg wie kein anderer. Zwei Frauen überqueren die Alpen“ beschreibt sie auf voluminösen 455 Seiten ihre abenteuerliche Fußwanderung mit klaren und eingängigen Worten und sehr persönlichen Empfindungen. Sie nimmt den Leser mit, der sich ja in seinem Lesesessel bei einem Glas Rotwein nicht anstrengen muss, aufreibende 17.000 Höhenmeter zu bewältigen, und dennoch dabei ist, ein Stück Abenteuer in einer großartigen Gebirgslandschaft zu erleben.

„Ein vorbehaltlos ehrlicher Reisebericht“ schreibt ein Leser, „von einer Autorin geschrieben, die aus ihrem Herzen keine Mördergrube macht und mit dieser Alpenüberquerung ihrem Körper bemerkenswert viel abverlangte. Ich bin durchgängig mitgewandert, habe Bilder vor meinen Augen gesehen und mich oft an meine eigenen Wanderungen erinnert!“

Und eine andere Leserin meint:

„Neben aller Betriebsamkeit des Tages nahm ich mir zwischendurch und nachts die Zeit, Ihre Alpenwanderung mitzuerleben. Leider hatte ich in meinem Leben keine Gelegenheit dazu. Als ich dann doch mal ins Ötztal reiste, streikte mein Herz und es wurde nichts aus anstrengenden Wanderungen. Dank einiger Bergbahnen erreichte ich auch die Höhen, genoss das Alleinsein in der Natur, lernte die kleinen Blumenschönheiten zu meinen Füßen entdecken. Während des Lesens sah ich alles wieder vor mir, fühlte, was ich damals empfand. Mit Ihrem Werk ist Ihnen etwas Außergewöhnliches gelungen. Mir gefällt die herzerfrischende Berichterstattung, Ihr menschlich munterer Ton, auch die Beschreibungen der Landschaften und die Informationen, die man zu den Örtlichkeiten erhält. Ein wunderbares Buch!“

Eine ungestüme Kindheit ließ ihren Abenteuerdrang erahnen

2000 Meter hoch in Trentino; Foto: privat

Stand sie oben auf den Gipfeln und schaute hinunter in die Täler, dann war dies für Gabriele Reiß und Heike Krüger eine Offenbarung, die Welt von oben zu betrachten und zu erkennen, dass Täler und Berge keine Grenzen sind. „Das hat mich umgehauen, hat mich geflasht, wie man heute sagt.“ Wen wundert’s, dass sie die Berge für den schönsten Platz in der Welt hält und sie sich fragt, ob sich so das Paradies anfühlt?
Dass Gabriele Reiß eine Leidenschaft für das Überwinden von Grenzen jedweder Art hat, was sich zuletzt in den Alpenwanderungen manifestierte, war schon in ihrer ungestümen Kinder- und Jugendzeit zu erkennen: Wildes Rollerfahren mit ständigen Blessuren, übermäßiges Meloneessen, weil’s schmeckte und dies anderntags zu Problemen führte; im Sauerland fiel sie im Jagdgalopp vom Pferd und im Harz ging ihr der Gaul durch, in holländischen Kanälen verlor sie mit ihrem kleinen Kanu die Orientierung und paddelte stundenlang in die Irre und vieles andere mehr. Von ihren Fahrten brachte sie nicht nur ihre Erinnerungen mit nach Hause, auch Muscheln, Dünensand in Tütchen, getrocknete Blumen, Hämatome, Läuse, Allergien und totes Getier.

Das „Arbeiterkind“ aus dem Revier studierte in Essen

Gabriele Reiß zeigt Start und Ziel; Foto: Stegemann

Das alles verlockt zu einem Rückblick auf ihr übriges Leben der heute 63-Jährigen. Gabriele Mauritz, das ist ihr Mädchenname, wurde 1953 in Gelsenkirchen-Ückendorf geboren. Der Name Mauritz dürfte den Dorstenern bekannt sein. Ihr Vater ist der jetzt wenige Tage vor seinem 90. Geburtstag stehende Fred Mauritz in Wulfen, der als „singender Seemann“ deutschlandweite Karriere und viele CDs machte. Die vorläufig letzte erschien vor wenigen Wochen, die er, der 90-Jährige, neu besang.
Gabriele Reiß verbrachte ihre Kinder- und Schulzeit in Essen-Frillendorf. Die Mutter war mit Leib und Seele Hausfrau und Mutter, wie sie sagt, der Vater Maschinenschlosser, der in der Mitte seines Lebens sein Werkzeug hinschmiss und – wie bereits erwähnt – mit Erfolg nur noch Seemannslieder sang. Das „Arbeiterkind“ Gabriele, was sie hervorhebt, studierte Sozialpädagogik an der Gesamthochschule/Universät Essen, heiratete, bekam zwischen 1978 und 1984 drei Kinder, arbeitete als diplomierte Sozialarbeiterin in der Kinder- und Jugendarbeit, Erwachsenenbildung und Altenhilfe. 1980 zog sie nach Dorsten und war 20 Jahre lang im Seniorenheim „Maria Lindenhof“ des Diakonischen Werks tätig. Dort war sie zuständig für die Heimaufnahmen. 1994 trennte sie sich von ihrem Mann, wanderte und kam erst 2004 zum Schreiben. In jenem Jahr brachte die dreifache Mutter mit „Liebeserklärung an Kinder“ auch gleich ein für Anfängerverhältnisse erfolgreiches Buch auf den Büchermarkt. Ein Leser schrieb:

„Ein hervorragendes Buch, das so positiv einstimmt. Unserer nüchternen Welt, die sich immer mehr an materiellen Dingen orientiert, zeigt dieses Buch einen anderen Weg, der von vielen nicht mehr gesehen wird. Ein kurzweilig geschriebenes Buch, das Eltern als Orientierung in vielen Situationen dienen kann. Ebenso macht es Lust auf Familie“.

Liebeserklärung: Ach wie schön ist doch mein überschaubares Dorsten  

Zwischendurch erschien 2009 der Erzählband „Himmelbrücke“. Seit 2014 ist Gabriele Reiß Mitglied im Literarischen Arbeitskreis Dorsten (LAD). In Dorsten fühlt sie sich heimisch. Sie ist gut angekommen. „Wenn ich in Gelsenkirchen oder Essen bin, denke ich: Ach wie schön ist doch mein überschaubares Dorsten. Da, wo Gabriele Reiß zwischen Kanal und Lippe wohnt, ist es auch schön, was sie auf den Punkt bringt: „Ich lebe supergern in Dorsten!“ – Ob bei dieser Liebeserklärung an die Lippestadt ihre geliebten Berge in den fernen Alpen nicht eifersüchtig werden?

Klein und verloren scheint der Mensch; Foto: privat

„Steinreich, vogelfrei – Ein Weg wie kein anderer.
Zwei Frauen überqueren die Alpen“

Auszug aus dem Kapitel: Fünfunddreißigster Tag

Hier also war im Ersten Weltkrieg ein Abschnitt der Front verlaufen, der in Italien Grande Guerra genannt wird. Von unten, aus dem Etschtal, hatte die Linie heraufgeführt. Insgesamt war sie fünfhundert Kilometer lang gewesen, an die hunderttausend Soldaten italienischer und österreichisch-ungarischer Truppen hatten sich längs des Frontverlaufs gegenüber gestanden.
Und dann waren sie gefallen, wurden sie weggerafft von Krankheiten, von Lawinen verschüttet. Selbst in den Gletscherwelten des Ortlers und des Adamellos hatten die erbitterten Kämpfe getobt und ihren eigenen Namen erhalten: Weißer Krieg.
In dem so schönen und friedlichen Trentino-Südtirol, das wir schwärmerisch durchwandern, hatte Blut die Erde getränkt, hatte es den Männern die Seele zerrissen, und denen, die um sie weinten, auch. Hier, wo Heike und ich – allein! – den Berg hinaufstiegen, hatten Soldaten nicht nur Rucksäcke, auch Gewehre, Munition und anderes Kriegsgerät schleppen müssen. Hier hatten sie Angst verspürt, Sorge, Sehnsucht, vielleicht Siegeswillen…
Stacheldrahtreste – lauter Mahnmale, die der Begeher des Friedensweges mit Beklemmung betrachtet, und sich die Frage nach dem Warum stellt. Wie so oft, wenn Menschen Kriege anzetteln und nach den Besitztümern der anderen greifen.
Warum schaffen wir es nicht, nachhaltig friedlich und tolerant miteinander umzugehen? Obwohl das jeder für sich vom Anderen erwartet? Warum kommt es immer wieder vor, dass Mächtige ihre Macht missbrauchen, im ‚Kleinen‘ und im Großen? Wohl deshalb, weil besitzergreifende, gierige und aggressive Seiten im Menschen angelegt sind wie der Herdentrieb. Und wenn dann noch Fanatismus dazu kommt, wird er zum Pulverfass.
‚Stellt euch vor, es gäbe Krieg und keiner ginge hin!‘, hatten wir in den Achtzigern gesagt. Ich erweitere den Gedanken: Stellt euch vor, jeder Mensch – wirklich jeder! – arbeitete daran, im umfassenden Sinn der aggressiven und missbrauchenden Handlung zu entsagen, und machte sich darüber hinaus den folgenden Satz Goethes zum Lebensprinzip: Behandle die Menschen so, als wären sie das, was sie sein sollten, und du hilfst ihnen zu werden, was sie sein können. Wenn die Menschheit das hinbekäme, tja, dann hätte sie nicht nur die Abwesenheit von Krieg, dann hätte sie Weltfrieden.“

_________________________________________________________________

Quellen: Gespräch Wolf Stegemann mit Gabriele Reiß am 5. September 2016. – Gabriele Reiß: „Steinreich, vogelfrei. Ein Weg wie kein anderer. Zwei Frauen überqueren die Alpen“, erschienen 2016. – Dorsten-Lexikon (Aufruf Reiß) www.dorsten-lexikon.de
Dieser Beitrag wurde unter Das Porträt, Freizeit, Reisen abgelegt und mit , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert