Von Wolf Stegemann
Die Lippebrücke in Dorsten war nicht nur ein friedvolles und für die Wirtschaft und den Reiseverkehr förderliches Bauwerk, das der Stadt mit dem Brückengeld jahrhundertelang den Säckel füllte, es war auch stets der casus für prozessuale und Austragsort für kriegerische Streitigkeiten und weckte immer wieder Begehrlichkeiten auf allen Seiten. Denn es gab nicht viele Übergänge an der Lippe, die damals viel breiter war als heute und etliche Untiefen hatte. Die Land- und Poststraße von Düsseldorf über Kirchhellen nach Münster und die Straße von Paris nach Berlin führten durch die Stadt und über die Dorstener Lippebrücke.
Wann dieser Flussübergang eine überlokale Bedeutung erlangte, ist nicht entschieden. In seiner Arbeit „Geschichte der Stadt Dorsten“ schreibt Bernd Kuhlmann 1975, dass die Bedeutung des Übergangs siedlungstechnisch erst nach dem Jahr 500 wirksam wurde. Allerdings, so schreibt es Dickmann in „Frühgeschichte“, dass der römische Feldherr Drusus im Jahre 12 vor Christi, als er vom heutigen Holland aus nach Südwesten vordrang, hier die Lippe überschritten habe. Wie auch immer, Bedeutung hatte Dorsten durch den Lippeübergang in allen Jahrhunderten. Die ältesten Nachrichten über Verkehrsverbindungen, die den Dorstener Raum durchquerten, stammen aus der Zeit der römischen Feldzüge 12 vor bis 16 nach Christi, schreibt Kuhlmann. Durch Dorsten ging der von Osten kommende transkontinentale historische Verkehrsstrom, der bedeutendste Fernhandelsweg Deutschlands im Mittelalter. Schließlich war die Dorstener Lippebrücke bis 1923 der einzige Übergang zwischen Haltern und Wesel. Dorsten bildete zusammen mit Dortmund, Essen und Recklinghausen eine wenn auch unbedeutende Untereinheit im Westfälischen Quartier der Hanse.
Strategisch wichtiger Übergang ins Münsterland
Durch die Lippebrücke war Dorsten aber nicht nur wirtschaftlich bedeutend, sondern der Besitz der Brücke brachte vor allem auch militärische Vorteile. So besetzten 1587 spanische Truppen Stadt und Brücke, ein Jahr später versuchte der protestantische Graf Philipp von Oberstein, die Stadt einzunehmen, 1590 bedrohten Holländer Dorsten, fünf Jahre später besetzten sie die Stadt und zerstörten die Lippebrücke, 1598 nahmen die Spanier Besitz von Stadt und Brücke. Im Dreißigjährigen Krieg von 1618 bis 1648 weckte der Lippeübergang die Begehrlichkeiten sowohl der protestantischen als auch der katholischen Heerführer. Zuerst besetzten katholisch-kurkölnische Truppen die Stadt, dann protestantische Hessen. Diese wurden durch kaiserlich-katholische Truppen des Feldmarschalls Hatzfeld wieder vertrieben. Im Siebenjährigen Krieg zogen französische Truppen über die Lippebrücke und besetzten die Stadt. Dann kamen 1761 die Hannoveraner, die im Jahre 1792, als Goethe in Dorsten weilte, sich nochmals einquartierten. 1794 besetzten österreichische Soldaten Stadt und Brücke und 1799 ein preußisches Observationscorps. Im Jahre 1806 zog die holländisch-französische Armee unter persönlicher Führung des Bruders Napoleons, Ludwig Bonaparte, König von Holland, durch die Stadt und über die Brücke. Am 6. November 1813 besetzte auf dem Rückzug von der verlorenen Völkerschlacht bei Leipzig Franzosen die Stadt. Sie wollten die Lippebrücke zerstören. Der Bürgermeister schrieb in die Stadtchronik: „Es war dieses der fürchterlichste Tag meines Lebens.“ Interventionen des Bürgermeisters halfen nicht. Die französischen Offiziere fassten den Beschluss, die Brücke nicht abzureißen, sondern sie abzubrennen. Die Chronik berichtet:
„Ein Kommando Soldaten wurde in die Stadt geschickt, um brennbares Material zu requirieren, hiermit wurde die Brücke bestrichen und angezündet; jedoch ohne Erfolg. […] Und es wurde der Befehl gegeben, dass augenblicklich 200 Bürger mit Axen, Beilen, Sägen p. p. zum Abhauen aufgeboten werden sollten. “ (Siehe Auszug am Ende des Artikels.)
Die Bürger weigerten sich und Militärkommandos zwangen die Männer in der Stadt zur Brücke. Als bereits zwei Teile der Brücke abgebaut waren, rückten die Franzosen in Richtung Wesel ab, ließen aber ein Kommando zurück, das die völlige Vernichtung der Brücke überwachen sollte. Am späten Nachmittag brach dann der letzte Teil der Brücke zusammen. Wenige Tage später machte das Gerücht die Runde, die Franzosen kämen zurück. Der Bürgermeister rief die nahen Kosaken der russischen Armee, die mangels Brücke mit Booten über die Lippe gesetzt und mit Hurra im Rathaus empfangen wurden. Als dann die Franzosen nicht kamen, gingen auch die Kosaken wieder und die Preußen kamen, dann wieder die Russen, dessen Befehlshaber Fürst Narischkin (fälschlicherweise in Heimatkalendern Narikin geschrieben) in Dorsten sein Hauptquartier aufschlug. In der darauf folgenden Friedenszeit, nachdem Dorsten preußisch geworden war, gab es auch bald wieder eine neue Brücke. Beinahe wäre sie im Winter 1820 weggerissen worden, als „der Eisgang auf dem Lippe-Fluss in solchem Maße anschwoll, dass mit jedem Augenblick die Brücke wegzureißen drohte und wirklich 3 Eisbrecher (Böcke) fortgerissen wurden“ (aus: Bürgermeister-Chronik).
Krach mit dem Lembecker Schlossherrn
Die Brücke war auch eine gute Einnahmequelle. So stritten auch die Lembecker Schlossherren mit der Stadt über die Einnahmen-Rechte der Brücke, nicht nur vor dem Richter, sondern auch mit Kriegsknechten. 1597 errichtete der Lembecker Schlossherr ein Zollhäuschen auf der anderen Seite der Brücke, weil er die Hälfte der Einnahmen für sich beanspruchte. Daraufhin zog Bürgermeister Palen an der Spitze seiner Stadtknechte mit gesenktem Spieß über die Brücke, um die Lembecker zu vertreiben. Die ließen sich nicht vertreiben, sondern verdroschen den angreifenden Dorstener fürchterlich und schleppten ihn ins Verlies auf das Schloss Lembeck, wo Palen starb. Die Lippebrücke brachte der Stadt im Jahre 1792, also in dem Jahr, in dem auch Goethe seine 15 Stüber Brückengeld und nochmals 18 Stüber Barrieregeld dazu gegeben hatte, 1.950 Taler ein. Das war doppelt so viel als in anderen Jahren, in denen nicht so viele Vertriebene und französische Emigranten die Brücke benutzten. Auch war die Stadt rigoros, wenn es galt, den Brückenpassanten ihre Groschen aus der Tasche zu holen. Auch diejenigen, die durchs seichte Wasser wadeten, mit dem Pferd durchritten oder einen Kahn benutzten, mussten Brückengeld zahlen. Dies erfuhr im September 1790 der Bürger Diedrich Heckmann, Eingesessener des Kirchspiels Hervest.
Prozess um beschlagnahmtes Fässchen Öl
Am 13. September passierte Heckmann die Brücke mit einer Schubkarre, darauf ein Fässchen Öl lag, und ein Paket mit Ölkuchen. Er zahlte sein Brückengeld und wollte die Brücke passieren, da hielt ihn der Brückengeld-Einnehmer fest, denn er erinnerte sich daran, dass Heckmann im Frühjahr mit einem Kahn voller Bauholz bei Schulte Tenderich über die Lippe gefahren sei, ohne Brückengeld gezahlt zu haben. Deshalb, so der Einnehmer, müsse er jetzt das Brückengeld nachträglich entrichten. Heckmann weigerte sich. Daraufhin beschlagnahmte der Einnehmer das Fässchen Öl und den Ölkuchen. Der Hervester beschwerte sich zuerst beim Dorstener Richter, „Ihrer Exellenz [sic!] Hochehren Richteren Hofrathen Jungebloth“. Dieser wurde beim Bürgermeister Averkamp vorstellig, der aber „eine ganz abschlägige Antwort per Extactum Ptlli zugestellt hat“. Daraufhin ging das Verfahren in die nächste Instanz, zum Herrlichkeitsrichter des Grafen Merveldt auf Schloss Lembeck. Am 4. Oktober 1790 setzte die „Gerichtsstube“ im Schloss ein Protokoll auf. Es kam eine Untersuchung in Gang, an der sich die Regierung in Münster, der Statthalter im Vest Recklinghausen, Graf von Nesselrode-Reichenstein, und der Kurfürst selbst als Weisungsgeber, Gutachter und Untersuchungsführer beteiligten. Zeugen machten unterschiedliche Angaben. Der eine musste nie etwas zahlen, wenn er die Lippe überquerte, ohne die Brücke benutzt zu haben, andere wiederum wurden zur Kasse gebeten. Ein Zeuge:
„Er, Schrudde. habe selbst des Heckmanns Zimmerholz dies Frühjahr mit seinem Spann durch die Lippe gefahren, habe nachgehends mit dem Zeller Aldenhoff für ihre eigens Consumtion Steinkohlen öffentlich daselbst durchfahren, seye nachgehends mehrmalen in Dörsten gewesen, seye aber diesmal so wenig wie jemals um Entrichtung des Brücken-Geldes angesprochen worden.“
Schließlich spielte der Aspekt der Wirtschaftlichkeit eine Rolle. Eingesessene der Herrlichkeit, die in Dorsten in ihren Geschäften zu tun hätten, sollten kein Brückengeld zahlen, da dies ihre wirtschaftliche Lage verschlechterte. Es wurden Protokolle geschrieben, weitere Zeugen vernommen, noch mehr Gutachten eingeholt und nachgefragt, wie es denn früher war und wie es woanders sei. Es ging um „die Hauptfrage, ob die Stadt Dorsten befugt seye zu verbieten, dass zum Nachtheil des Brückengeldes an dem Tenderichs Busch [heute Lippetal] Niemand durch die Lippe fahren dürfe!“
Doch kein öffentlicher Weg!
Der Statthalter bat den Kurfürsten, den Gebrauch der Lippeüberquerung bei Tenderich „öffentlich durch Verkündung von der Kanzel und Setzung gehöriger Warn Pfähle“ zu gestatten. Der Stadtrat blieb bei seiner Ablehnung und verwies, dass die Dorstener Praxis an allen vier Lippebrücken im Vest angewendet würde, denn nach „genauer Untersuchung“ sei der Lippedurchgang im Busch bei Schulte Tenderich als ein „bloßer Schleichweeg“ und „als solcher öffentlich verboten“. Der Kurfürst wies per „Votum“ am 11. Juli 1791 den Statthalter an, dass der „Weg öffentlich verboten werden möge“.
Eiserne Brücke ersetzte 1927 die hölzerne
Die alte hölzerne Lippebrücke wurde 1927 im Auftrag des Deutschen Reiches wegen Baufälligkeit durch eine neue eiserne Brücke ersetzt. Sie hatte eine Spannweite von 68 Metern, die Breite der Fahrbahn betrug 7,5 Meter und die beiden Gehwege waren je 2,5 Meter breit. An den Baukosten hatte die Stadt einen Anteil von 200.000 Mark zu leisten gehabt und finanzierte diese Ausgaben durch Abtretung von Parzellen diesseits und jenseits der Brücke an die Wasserstraßenverwaltung des Reiches. Nach Fertigstellung der eisernen Brücke (Dorstener Volkszeitung: „Landschaftlich hat das Bild hier durch die neue Lippebrücke nicht gewonnen.“) wurde die alte Brücke abgerissen. Darüber schrieb die Lokalzeitung wehmütig: „Sie stöhnte dann wohl ab und zu und wackelte auch etwas bedenklich, doch dann stand sie wieder unerschütterlich da.“ Im Zuge des Baus von Eisenbahnlinien im 19. Jahrhundert wurde eine Eisenbahnbrücke in Sicht der alten Straßenverkehrsbrücke gebaut. Beide Brücken wurden im Zweiten Weltkrieg zerstört und danach wieder aufgebaut.
Auszug aus der Chronik. Bürgermeister Gahlen dokumentierte die Zerstörung der Brücke durch französische Soldaten:
„Gegen 10 – 11 Uhr des Morgens war indeß der aus etwa 4 – 500 Mann bestehende Trupp bis auf einige Tausenden angewachsen, die sich jenseits der Lippe-Brücke postiert hatte, und nun durch den Ober-Offizier bei mir den Antrag machen ließen, die Lippe-Brücke abbrechen zu lassen. Es war dieses der fürchterlichste Tag meines Lebens … Der Plan, die Brücke abzubrechen wurde in dem dieselbe abzubrennen verändert. Ein Commando Soldaten wurde in die Stadt geschickt um brennbares Material zu requiriren, hiermit wurde die Brücke bestrichen und dann angezündet; jedoch ohne Erfolg. Die Brücke wollt aller angestellten Versuche ohnerachtet nicht zünden, und es wurde der Befehl gegeben, daß augenblicklich 200 Bürger mit Axen, Beilen, Sägen p. p. zum Abhaun aufgebothen werden sollten ….
Nun begann die Arbeit und als gegen zwei bis drei Uhr Nachmittags zwey Fach der Brücke zusammengestürzt waren, zog die Truppen Masse nach Wesel ab; nur ein Commando von ungefähr 150 Mann und ein Offizier blieben zurück um auch noch Zeuge der Zerstörung eines dritten Faches zu sein, mit weinenden Augen mußten die Bürger auch hier noch Hand ans Werk legen, und gegen 5 Uhr Abends stürzte auch dieses dritte Gefach zusammen … Noch ehe das in requirirten Wein berauschte Commando abzog wurde ein junger Mensch, ein Faßbinder-Geselle, der sich aus Unbekanntschaft mit Schiffahren geweigert hatte, von jenseits stehender Mannschaft todtgeschossen.“
Wir haben einen original Linolschnitt von der alten Lippebrücke aus dem Jahr 1926.
Signiert ist es von Franz Kruse. Wer kann uns mehr darüber sagen?
Wir würden gerne mehr über den Künstler erfahren.