Hexen und Geister im Geäst und in den Wurzeln – Zahn der Zeit nagt an den alten Bäumen in der Herrlichkeit

Der Baum als Richtstätte im Dreißigjährigen Krieg (Galgenbaum); Jaques Callots 1632/33

Von Wolf Stegemann

Bäume haben die Menschen schon immer fasziniert, auch wenn so mancher Zeitgenosse den einen oder anderen Baum am liebsten weg hätte, weil er Licht und Sonne nimmt oder vor dem Haus dem Auto im Weg steht. Die Stadt ist da sehr zurückhaltend mit der Genehmigung zum Abholzen. Daher erregte es die Gemüter in Altendorf, als die Stadt mehrere Eichen fällen ließ, und in Holsterhausen, als 2006 die Stadt eine über 100 Jahre alte Buche an der Straße Pastors Busch fällen ließ. Die Umgebung von Dorsten ist voll von alten Bäumen, um die sich nicht nur Laub, sondern Legenden ranken: Erler Femeiche, Napoleons- oder Galgenbuche, Spökenbuche, Hexen-Buchen, Hürlands Eiche und andere.

In Bäumen Götter verehrt

Von vielen Menschen früher als Gottheit verehrt, heute als Geschäftsanlage gepflegt, von Naturschützern gehegt, von Literaten bedichtet, von frohen Menschen umtanzt, von Sängern besungen, von Liebenden mit Herzchen verziert, von Ängstlichen mit Mysterien behaftet, von Henkern zum Richten benutzt, von Ruhenden zum Schutz aufgesucht – das alles und noch mehr ist der Baum. Er ist das Symbol des Lebens, der steten Lebenserneuerung genauso wie das des Todes und der Sünde. Um den Baum bewegte sich im Paradies die listige Schlange, um Eva zu verführen, die wiederum unter dem Baum ihren Adam zur Sünde lockte. Der Baum ist auch ein zu schützendes Natur-Objekt, ein Sauerstoff- und Wärmespender. Aber nicht nur in der heutigen Zeit extremer Umweltbelastungen kommt dem Baum besonderer Schutz zu, auch im Mittelalter wurden Baumfrevler wie Brandstifter mit Acht und Bann belegt. Im Bereich der Herrlichkeit gibt es viele alte, knorrige Bäume – Buchen, Eichen und Platanen, die als Naturdenkmale unter Schutz gestellt wurden. Um sie ranken sich meist wilde Geschichten, in denen es nur so von Hexern und Geistern spukt.

Baum der Erkenntnis. Michelangelo: Erschaffung der Eva, Sündenfall und Vertreibung aus dem Paradies; 1509/10 Sixtinische Kapelle im Vatikan

Die frühesten kultischen Beziehungen zwischen Mensch und Vegetation spiegeln sich im Baumkult wider, in der Verehrung gewaltiger Mächte oder göttlicher Wesen in Gestalt von Bäumen, in denen sie wohnen. Aus der Tiefe der Erde führt der Baum immer von neuem Kräfte des Lebens ans Licht. Deshalb wird der Baum in der Kulturgeschichte, obwohl mit männlichem Artikel, als ein weibliches Symbol angesehen.

In viele Religionen fand er Eingang als Baum des Lebens (Altes Testament). Im Neuen Testament saß der Zöllner auf und Jesus weinte unter einem Baum. Die christliche Kunst kennt den Paradiesbaum als Symbol der Erlösung, und den Weltenbaum, der das All und die kosmischen Geschehen darstellt. Mit den Mächten des Lebens verbunden ist auch die Segensrute des altrömischen Kults, die sich in der Rute des Nikolaus bei uns erhalten hat. Im Rauschen des Baumes vernahm man früher die göttliche Stimme. So galt der Baum als Orakel – im Alten Testament genauso wie in Griechenland die heiligen Eichen im Hain zu Dodona.

Bonifatius fällt die Donar-Eiche bei Hofgeismar

In der Eiche verehrten die Sachsen den germanischen Gott Donar, bis der christliche Missionar Bonifatius, Patron der gleichnamigen katholischen Kirche in Holsterhausen, im Jahre 723 die Eiche bei Geismar fällte, ohne dass Blitz und Donner die Sachsen und Bonifatius vernichteten. In fernöstlichen Darstellungen empfängt auch Buddha die Erleuchtung unter dem Bodhi-Baum.

Vor allem im ländlichen Brauchtum wurden noch bis in dieses Jahrhundert hinein Gaben an Zweige gehängt, Kleider und Kleiderfetzen stellten die Verbindung her zwischen einem Neugeborenen und einem bei seiner Geburt gepflanzten Baum, dessen Gedeihen sich auf das Kind auswirken sollte. Wer kennt nicht den Spruch, was ein Mann in seinem Leben vollbracht haben muss: „Ein Haus gebaut, ein Kind gezeugt, einen Baum gepflanzt!“ Ursprungslegenden mittelalterlicher wie barocker christlicher Wallfahrten sprechen oft von Erscheinungen oder Gnadenbildfunden an Bäumen, wie beispielsweise in Kevelaer. Alter Baum-Kult wird in westfälischen Gegenden noch häufig zu Weihnachten und bei Ernte- oder Maifesten im religiösen wie profanen Bereich praktiziert.

Die Femeiche in Erle-Raesfald

Femeiche in Erle

Am Ende des Ersten Weltkriegs, als Kleinmünzen wegen der Metallknappheit rar waren, wurden vom Amt Lembeck-Altschermbeck, das die Herrlichkeitsdörfer verwaltete , Eisenmünzen mit dem Bild der 1.600 Jahre alten Erler Feme-Eiche mit der Legende „Vehm-Eiche“ geprägt. Sie ist der bekannteste und kulturhistorisch kostbarste Baum in der Herrlichkeit, unter dessen weit ausladender Krone bereits die alten Sachsen Recht gesprochen hatten. Obwohl nur noch der Rindenmantel erhalten geblieben ist, der Schaft ist vollständig hohl und restauriert, grünt die alte Eiche in der Nähe des Pastorats in jedem Frühjahr von neuem. Die Femeiche (Feme-Eiche) heißt auch „Ravens-Eiche“ und war somit dem Raben des Gottes Donar (Odin) geweiht. Auch nach der Christianisierung blieb der Platz um den Baum noch Stätte der Gottesverehrung.

Der schiefe Stamm der Erler Eiche hat einen Durchmesser von über zwölf Metern. Mehrmals drohte der Stamm auseinander zu brechen und musste mit Eisenringen und Holzbalken gestützt werden. Zwischen den zerklüfteten Rinden des Baumes gibt es im Innern viel Platz. Im August 1819 hielt die 6. und 15. Division im Emmelkamp und in Üfte Herbstübungen ab, an denen sich auch das hiesige Landwehrbataillon beteiligte. Zu diesem Manöver kamen auch der Kronprinz von Preußen, der preußische Kriegsminister und mehrere hohe Generäle. Nach einer Parade am 26. August nahmen der Kronprinz mit seinem Gefolge, dem der Kriegsminister Generalleutnant von Hacke, Generalleutnant von Thielemann, Generalmajor von Bork und von Loßau sowie mehrere hohe Offiziere angehörten, im hohlen Stamm der alten Eiche das Mittagessen ein. In feldmarschmäßiger Ausrüstung passten 36 Infanteristen in die Höhlung des Stammes und ein anderes Mal verschwand der gesamte Chor des Dorstener Gymnasium Petrinum mit 50 Schülern im Stamm. 1851 zwängte sich der Bischof von Münster, Johann Georg, mit elf Geistlichen in das Loch. Auf zwölf Stühlen hatten sie an einem runden Tisch in der Eiche Platz genommen.

Napoleonsbuche; Fotosammlung Biermann

Napoleonsbuche

Auf dem „Galgenberg“, dicht am Napoleonsweg, stand die weit ausladende etwa 400 Jahre alte „Napoleonsbuche“, von der Bevölkerung auch „Galgenbuche“ genannt. Napoleon soll sie schon bewundert haben, was vermutlich nicht stimmt. Auf einer kleinen Lichtung war sie, fast 20 m hoch, von Kiefern umgeben. Der Stamm hatte einen Umfang von vier Metern. Es heißt, dieser einzelne Baum war der Rest der „Sieben Galgenbuchen“ („Sieben Telgen“), die früher dort gestanden haben sollen.  Anzunehmen ist, dass dort Gericht gehalten und das Todesurteil an Ort und Stelle vollstreckt wurde. Einen Nachweis gibt es allerdings nicht. Auch diese Buche war mehrmals restauriert und ausgemauert worden, um den starken Verfall aufzuhalten. 1973 verlor der Baum bei einem Sturm Krone und weitgehend den Stamm. Es blieb nur noch ein Stumpf übrig. Heute ist nur noch eine Informationstafel vorhanden, dass dieser Baum hier gestanden hat.

Spökenbuche

Keine zwei Kilometer davon entfernt steht die so genannte „Spökenbuche“ (Spukbuche). Ihr Alter dürfte zwischen 200 und 300 Jahren liegen. Der eigentliche Stamm ist nur zwei Meter hoch und hat einen Umfang von zweieinhalb Metern. Allerdings hat dieser Baum ein Geäst mit einem Durchmesser von fast 20 Metern. Um diese Buche ranken sich viele wundersame Geschichten, die sich dort zugetragen haben sollen: Da ist von Wilderern die Rede, die in einer Kuhle saßen und ein geheimnisvolles Flöten und Klopfen vernahmen, das aus dem Erdinnern zu kommen schien. Mit Panik rannten sie nach Hause. Nach einer anderen Erzählung soll eine Frau Beeren gegessen und an der „Spökenbuche“ Schmerzen bekommen haben. Dort soll sie an Magenkrämpfen auch gestorben sein. Ein Bauernbusche wollte zur Geisterstunde an der Spökenbuche einen Hasen schießen. Er traf ihn. Aus dem einen Hasen wurden erst zwei, dann drei und so weiter, bis der Bauernbursche sein Gewehr wegwarf und von Angst gepeinigt nach Hause lief. Die Reihe solcher Geschichten ließe sich fortsetzen.

Napoleonsbuche am Napoleonsweg, Spökenbuche in Lembeck, Hexenbuchen in der Hohen Mark (v. l.)

Hürlandeiche und Hubertusbuche

„Hürlands Eiche“ heißt der Baum, der einsam auf freiem Feld bei Lembeck-Beck steht. Der Stamm ist kurz und gedrungen. Die knorrigen Äste ragen weit und hoch empor. Ein Baum, der ebenfalls in die Geschichte der Region einging, steht nicht mehr. Es ist die „Hubertus-Buche“, die im Lembecker Hagen ihren Namen von einem Hubertus-Bild erhalten hat. Das Bild war am Stamm befestigt. Etwa vier Meter über dem Erdboden teilte sich der Baum in drei Stämme. Auch mit Hilfe starker Eisenbänder war er nicht mehr zu halten. Die Stürme knickten zuerst die Äste, dann den Stamm. In den zwanziger Jahren ging der Baum, ebenfalls ein jahrhundertealter Veteran, gänzlich zu Bruch. Die Hubertus-Buche gehörte zu den elf anderen Buchen, die „Zwölf Apostel“ hießen. Heute steht keine der „Apostel-Buchen“ mehr.

Pastoratsbuche

Hinter dem alten Pastorat in Hervest stand auf einem kleinen Hügel des Hofes Schollbrock eine etwa 300 Jahre alte Rotbuche, die deshalb den Namen „Pastoratsbuche“ erhalten hat. Der Baum war etwa zwölf Meter hoch und der Stamm begann aber erst 70 cm über dem Boden. Oberirdische 30 cm dicke Wurzeln schlangen sich fünf bis sechs Meter übereinander. Bis etwa 1915 waren in der Krone, zu der eine Treppe hinaufführte, ein Fußboden, Bänke und ein Tisch untergebracht. Dort pflegten die Geistlichen an heißen Tagen ihren Kaffee einzunehmen. Auch Westfalens Oberpräsident Vincke nahm dort oben in der Pastoratsbuche einen Imbiss ein.

Hexenbuchen

In der Hohen Mark, unweit des Holtwicker Naturlehrpfads, steht am Fuß des Waldbeerenberges eine skurrile Baumgruppe, die man die „Hexenbuchen“ nennt, weil sie durch ihre Gestalt wie tanzende Hexen aussehen. Die acht knorrigen Sattelbuchen, deren Stämme schlangenförmig gewachsen sind, sind etwa 300 Jahre alt und haben eine Höhe zwischen acht und 16 Metern. Nicht nur der Zahn der Zeit nagt an den alten Bäumen, die, wenn sie erzählen könnten, über Heimatgeschichte und Geschichten Interessantes zu sagen hätten. Heute sind es die chemischen Stoffe in der Luft, die den Bäumen schwer zu schaffen machen. Eins dürfte sicher sein: Ein Baum, in der heutigen Zeit gepflanzt, wird kaum jene 1.600 Jahre alt, die die Erler Eiche bereits auf ihrem steinharten Rindenbuckel hat.

Der Baum in der Traumdeutung

Der Glaube und Aberglaube um den Baum hat sich bis heute in der Esoterik und in der Traumdeutung erhalten. Wer von einem blühenden Baum träumt, für den werden sich die Tage glücklich gestalten, wer den Baum ohne Blätter sieht, ist von Unheil bedroht, wird es aber meistern. Träumt jemand von Früchten am Baum, der soll seine Eltern ehren und ihnen dankbar sein. Klettern jemand im Traum auf den Baum, dann hat er in einer Lebenssituation Glück gehabt, es hätte schlimmer kommen können. Wer herabfällt, dem wird geraten, sich nicht aus der Bahn werfen zu lassen. Und derjenige, der auf dem Baum in seinem Traum sitzen bleibt, dessen Ansehen wird erhöht. Eine unerwartete Botschaft erhält derjenige, der davon träumt, unterm Baum zu sitzen. Naja, und dann ist der Baum noch ein träumerisches Phallussymbol.

  • Quelle: Printveröffentlichung in „Holsterhausener Geschichten“, Band 6, 2009

 

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Ein Kommentar zu Hexen und Geister im Geäst und in den Wurzeln – Zahn der Zeit nagt an den alten Bäumen in der Herrlichkeit

  1. WvS sagt:

    Vielen Dank für diesen Artikel. Wie gut, dass die Heimat mit ihren (geschichtlichen) Besonderheiten nicht aus dem Blickfeld gerät – dank dieser hervorragenden Seite!

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