Bronzetafel am Marktbrunnen erinnert an Goethes Besuch in Dorsten im Dezember 1792 – aber auch an eine kulturpolitische Provinzposse aus dem Rathaus im Jahre 2000

Die Enthüllung der Tafel am Makt im Jahr 2000; v, l.: Grete Mai, Wolf Stegemann, Stadtrat Hans Löns, Stadträtin Petra Somberg, MdL Werner Kirstein, Bürgermeister Friedhelm Fragemann, Peter Mai; Foto: DZ

Von Wolf Stegemann

9. Dezember 2016. – Wenn auch Goethe als Person schon lange Geschichte ist, seine Werke wirken fort in allen Gegenwarten der bisherigen 200 Jahre und werden auch für die nächsten Generationen von Schülern präsent bleiben. In Dorsten gehört sein kurzer Aufenthalt in der Lippestadt Anfang Dezember 1792 zwar auch der Geschichte an, doch dieser Aufenthalt hatte in unserer Gegenwart ein possenhaften Nachspiel, als im Jahr 2000, genau 228 Jahre nach seinem Aufenthalt am Dorstener Marktplatz, Bürger am dortigen Brunnen eine Informationstafel anbrachten. Das gefiel etlichen Dorstener Lokalpolitikern überhaupt nicht. Sie plusterten sich unverständlicherweise auf und überschütteten die Dorstener Bürger-Initiative unverständlicherweise mit Spott und Hohn, wozu auch die damalige Lokalzeitung der WAZ ihren Teil beitrug. Dieser Schuss ging allerdings nach hinten los. Warum?

Bronzetafel im Boden eingelassen

1999 etablierte sich unter dem Namen „Goethe-Stammtisch“ eine Gruppe Dorstener Bürger und Bürgerinnen, die bis 2003 zu öffentlichen Veranstaltungen mit klassischer Musik und Literatur in das Alte Rathaus am Markt eingeladen hatte, so dass 2004 der Trägerverein Altes Rathaus sowohl auf die Idee als auch auf das Publikum des „Goethe-Stammtisches“ zurückgreifen konnte. Der Text auf der vom „Goethe-Stammtisch“ angebrachten Bronzetafel  ist nachzulesen und lautet:

Auf der Rückreise von der „Campagne in Frankreich“ kehrte
Johann Wolfgang von Goethe
am 6. Dezember 1792 in die Schankstube des Rathauses am Markt ein
und trank Wein für 28 Stüber.
Für 15 Stüber wurde seine Kutsche geschmiert;
18 Stüber zahlte der Dichter für das Passieren der Lippebrücke
sowie vier Taler und 15 Groschen an der Poststation für Kutsche, Postillon und Pferde.

Planungsausschuss genehmigte ohne Diskussion und Gegenstimmen

Goethes Rechnungsbuch mit den Dorstener Ausgaben

Den Nachweis, dass Goethe tatsächlich in Dorsten war, was früher schon mehrmals veröffentlicht aber nie belegt wurde, fand der Autor bereits 1984 im Goethe-Schiller-Literaturarchiv in Weimar, damals noch DDR. Goethes Diener hatte auf den Reisen von Frankreich über Düsseldorf und Dorsten nach Münster ein Rechnungsbüchlein geführt, in das er alle Ausgaben eintrug, auch die 28 Stüber in Dorsten. – Die „Campagne in Frankreich“ war ein Kriegszug der deutschen Fürsten gegen die Revolutionsarmee Frankreichs, an dem Goethe als „Feldschreiber“ seines Weimarer Herzogs teilnehmen musste. „Campagne in Frankreich“ ist auch der Titel seiner veröffentlichten Erinnerung.

Politiker verbittert

Das bürgerschaftliche Engagement des Dorstener Goethe-Stammtisches, der auch für die Finanzierung sorgte, stieß bei Mitgliedern der CDU-Fraktion im städtischen Kulturausschuss, bei der Kulturverwaltung und bei Mitgliedern des Vereins für Orts- und Heimatkunde auf bissige Ablehnung, da aus diesen Kreisen zu diesem Zeitpunkt der Beginn einer eigenen Aktion mit Geschichtstafeln geplant war. Zuvor genehmigte allerdings der für das Anbringen der Tafel allein zuständige Planungsausschuss der Stadt die Aktion des „Goethe-Stammtisches“ ohne Diskussion und Gegenstimmen. Der Kulturausschuss war daher überhaupt nicht zuständig, zumal die Genehmigung bereits erteilt war. Für die Mitglieder des Goethe-Stammtisches ist es daher bis heute unerfindlich, warum sich die öffentliche Ablehnung der Kulturpolitiker mit beißendem Spott über Bürger der Stadt ergoss, die sich ehrenamtlich um dieses kleine Teilchen der Geschichte der Stadt bemühten. Die „Dorstener Zeitung“ schrieb am 27. Juni 2000 unter der Überschrift: „CDU-Politiker verbittert über Anbringung der Goethe-Gedenktafel“, dass Jochen Schräjahr (CDU) in der Kulturausschusssitzung gefragt habe, ob der Goethe-Stammtisch nun auch noch ein Goethe-Institut gründen wolle und der damalige Leiter des Amtes für Kultur und Bildung, Franz-Josef Stevens, davor warnte, „Privatinitiativen derart gewähren zu lassen“. Bekannt ist ja, dass er nach seiner Pensionierung selbst erfolgreich privatinitiativ kulturell tätig wurde. Rechtsanwalt Bernd Freer schrieb einen Leserbrief, der am 28. Juni 2000 in der DZ veröffentlicht wurde:

„Offensichtlich ist es in Dorsten nicht mehr möglich, an irgendeiner öffentlichen Veranstaltung teilzunehmen, ohne Gefahr zu laufen, von gewissen Kreisen einer gewissen Partei möglicherweise auch noch öffentlich diffamiert zu werden, überdies noch von Personen, die nach Kenntnis des Unterzeichnenden kulturell nicht unbedingt auf höchstem Niveau stehen…“ (Auszug).

Es war die Campagne in der Champagne, von der Goethe zurückkehrte

Johann Wolfgang von Goethe

Die politische Ablehnungsposse eines Teils der Politiker fand eine öffentlich-mediale Ergänzung durch die Berichterstattung der Dorstener Ausgabe der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung“ (WAZ), weil deren Kulturredakteur glaubte, Goethe wäre nicht von einer „Campagne“ in Frankreich zurückgekehrt, sondern aus der „Champagne“. Und so stand es irrtümlich auch auf der Tafel. Denn der Mitarbeiter der Eisengießerei, der die Platte anfertigte,  stellte nach seiner Ansicht fest, dass im vorgegebenen Wort „Campagne“ das h fehle. Ohne Rückfrage beim Auftraggeber machte er aus der „Campagne“ die „Champagne“ und glaubte, das wäre richtig so. Da vor Anbringung der Tafel diesen Lapsus kein Mitglied des Goethe-Stammtisches zu Gesicht bekam, blieb es bei der fehlerhaften und dennoch begrifflich richtigen „Champagne“.

Kleiner Buchstabe mit großer Wirkung

Nachdem Bibliothekar Christian Gruber als erster den Fehler bemerkte, informierte er den Goethe-Stammtisch, der beim Hersteller kostenlos Ersatz für die fehlerhafte Tafel bekam. Zwischenzeitlich berichtete ein „Informant“ dem WAZ-Kulturredakteur über die Verwechslung des Wortes „Campagne“ mit „Champagne“ in der Eisengießerei, was der WAZ-Redakteur allerdings nicht als Schreib-Fehler betrachtete, sondern öffentlich bezweifelte, dass Goethe überhaupt aus der Champagne gekommen war, und begründete seine Zweifel mit der Feststellung, dass, sollte Goethe dort gewesen sein, dies in Dorstens Partnerstadt Dormans sicherlich bekannt sein müsste, denn Dormans liege mitten in der Champagne. Die WAZ stellte daher offenbar geschichts- und literaturunkundig die falsche Behauptung auf:

„J. W. Goethes (Schaum)-Weinkonsum in allen Ehren – aber in der weinseligen Champagne ist der Herr Geheimrat nie gewesen. Sonst hätte Dorstens Partnerstadt Dormans womöglich auch die Ehre, an den deutschen Dichter erinnern zu dürfen…“

 Zeitung „türkte“, um zu diffamieren – der Schuss ging nach hinten los

Stammtisch-Button

Die Zeitung suggerierte mit einem gestellten Foto, auf dem zwei Sektgläser und eine Sektflasche auf der Bronzetafel standen, dass wohl der sprudelnde Sekt den Mitgliedern des Goethe-Stammtisches so zugesetzt hätte, dass sie nicht mehr wussten, ob Champagne oder Campagne. Es wäre für den WAZ-Redakteur ein Leichtes gewesen nachzulesen, dass Goeth seine Kriegserlebnisse in seinem Buch „Campagne in Frankreich“ veröffentlicht hat und dass die Campagne in der Champagne stattfand. Die Duplizität der Worte mit und ohne -h- zu begreifen, war wohl für einige Dorstener zu hoch. Die WAZ bemühte sogar ihren Karikaturisten Sakurai, Günter Vonhoff, ein Mitglied des Goethe-Stammtisches, mit Fliege am Hals und einem schwingenden Bierhumpen à la Oktoberfest in der Hand darzustellen, obgleich er Weinkenner und kein Biertrinker ist. Was für ein Stilbruch! Andererseits aber: welche Ehre, karikiert zu werden! Goethe hätte sicherlich nicht nur über diese Karikatur geschmunzelt, sicher auch über die ganze Provinz-Posse, wenn er sie überhaupt zur Kenntnis genommen hätte. Und wir alle dürfen heute ebenfalls darüber schmunzeln. – Übrigens gehörten dem Goethe-Stammtisch an: Dr. Helmut Frenzel, Maria Frenzel, Magnus Kremser (†), Grete und Peter Mai, Margret Scheich, Petra Somberg-Romanski, Wolf Stegemann, Günter Vonhoff und Dr. Karl-Christian Zahn (†).

WAZ-Karikatur vom 1. Juli 2000

Facharbeit einer Schülerin mit einer Umfrage zur Goethe-Tafel am Markt

Im Schuljahr 2000/2001 verarbeitete Judith Kolbe die Politik- und Medien-Provinz-Posse um die Goethe-Tafel zeitnah in ihrer Facharbeit im Leistungskurs Deutsch des Gymnasium Petrinum unter dem Titel „Goethe und Dorsten. Der Dichterfürst in der kleinen Hansestadt“. Minutiös berichtete sie über die Auseinandersetzung im Kulturausschuss, in der CDU und in den Zeitungen. Ein halbes Jahr danach wollte sie in einer Umfrage auf dem Marktplatz wissen, ob Goethe mit Dorsten in Zusammenhang zu bringen sei. Sie befragte 120 Frauen, 100 Männer und 50 Jugendliche. Nur 15 Prozent der Befragten war der kurze Besuch Goethes in Dorsten 1792 bekannt und nur fünf der 220 Befragten hatten die Gedenktafel bereits im Original gesehen, andere hatten nur aus Zeitungsberichten darüber gelesen. Befragte Personen im Alter von über 70 Jahren wussten mehrheitlich von Goethes Aufenthalt (Frauen 25 Prozent, Männer 40 Prozent). Von den 20- bis 30-Jährigen wusste keiner der Befragten, dass Goethe schon einmal in Dorsten gewesen war; bei den 30- bis 40-Jährigen nur Eindrittel und von den gleichaltrigen Frauen wusste keine Befragte davon. Judith Kolbe veröffentlichte auch Eindrücke von der Reaktion der Befragten. Diese waren unterschiedlich: „Nein, ist mir aber auch egal.“, „Kann ich mir nicht vorstellen, dass der mal hier war“, „Ach, das ist ja interessant“, „Also, das glaube ich Ihnen jetzt aber nicht“. Andere wussten nichts darüber mit dem Argument: „Wir kommen nicht aus Dorsten, wir sind zugezogen“.

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Quellen: Broschüre „Goethe in Dorsten“ hg. vom Goethe-Stammtisch 2000. – RN vom 22. Juni 2000. – RN vom 28. Juni 2000. – WAZ vom 8. Juli 2000. – Michael Klein „CDU-Politiker verbittert über Anbringung der Goethe-Gedenktafel – Nun auch noch ein Goethe-Institut?“ in Dorstener Zeitung vom 27. Juni 2.000. – Ralph Wilms (raw) „Der Durst des Dichters“ in WAZ vom 3. Juni 2000. – Ralph Wilms (raw) „Champagne ohne Goethe“ in WAZ. – Ralph Wilms (raw) „Hier war Goethe nicht“ in der WAZ vom 28. Juni 2000. – Heiko Samurais Karikatur in der WAZ vom 1. Juli 2000. – Judith Kolbe „Goethe und Dorsten“, Facharbeit im Leistungskurs Deutsch, Gymnasium Petrinum, Schuljahr 2000/01. – In Youtube (Goethe in Dorsten) ist ein Ausschnitt eines Films von Christian Gruber zu sehen, der die Einweihung der Goethe-Tafel zeigt.

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