Postdirektor legte Bestandsaufnahme über die Post und die städtischen Verhältnisse der kgl.-preußischen Regierung vor – Eine Beschreibung aus dem Jahre 1890

Essener Straße um 1910

Von Wolf Stegemann

Wie heute Dorstern aussieht, weiß jeder, der hier lebt und mit offenen Augen durch die Stadt geht. Die Stadt hat ihre guten wie ihre weniger guten Seiten, ihre malerischen Winkel, schöne Postkartenmotive vor allem am Kanal und an der Lippe. Doch wie sah Dorsten vor rund 125 Jahren aus? Damals wurde kaum fotografiert, wenig über die Stadt geschrieben, und wenn, dann überaus schwülstig und meist nur kurz. Eine der wenigen längeren authentischen Bestandsaufnahmen über die Lippestadt des Jahres 1890 ist die Beschreibung des damaligen ersten kaiserlichen Militärpostdirektors Artur von Lattorff (Chronik- Beiheift zur Statistik des Kaiserlichen Beihefts zur Statistik des Kaiserlichen Postamts in Dorsten, Münster). Militärpostdirektor Artur von Lattorff war bereits im Ruhestand, als er die Bestandsaufnahme verfasste. Vermutlich hat er sie im Auftrag des damals amtierenden Militärpostdirektors von Hugo geschrieben. Das Dorstener Postamt wurde 1878 Militärpostamt und unterstand damit gewissen militärischen Reglements. Zu Direktoren wurden nur noch ehemalige Offiziere ernannt. – Diese von der königlich-preußischen Regierung geforderten Auskünfte über die Verhältnisse der Stadt Dorsten in Vergangenheit und damaliger Gegenwart sind hier nur in Auszügen, jedoch im Originaltext, wiedergegeben, die entweder etwas Neues berichten oder Bekanntes bewerten.

Dorstener Militärpostbeamte vor 1890 mit Artur von Lattorff (Mitte)

1. Geographische Lage des Ortes, Gründung desselben, Herleitung seines Namens und die Hauptmomente seiner Geschichte:

Hier wird Bekanntes beschrieben: Die Lage der Stadt an der Lippe, die Zugehörigkeitsverhältnisse, die Reformationswirren und die Militärverhältnisse während des Dreißigjährigen Kriegs, von den militärischen Besetzungen und Kriegen danach und vom wirtschaftlichen Niedergang der Stadt.

2. Beschaffenheit des Bodens, auf welchem der Ort sich erhebt, sowie der Umgegend in geologischer Beziehung (Baumaterial); Wasserverhältnisse, namentlich auch mit Rücksicht auf den Gesundheitszustand (Epidemien):

Die Stadt steht auf körnigem Sandboden, der jedoch in Folge der verschiedenen Zerstörungen und Umbauten mit mannigfachen alten Grundmauern, sogar Kellergewölben durchsetzt ist. Nördlich und östlich der Stadt herrscht das Heideland untermischt mit Kieferwaldungen vor, südlich und westlich der Stadt finden sich fruchtbare, lehmhaltige Landstriche. Steinkohlen lagern in einer durchschnittlichen Tiefe von 400 Metern. Sandstein zeigt sich erst bei Haltern und Essen. Die Wasserverhältnisse sind für den Gesundheitstand ziemlich günstig, doch entbehrt die Stadt eine Wasserleitung. Die Lippe könnte nach einem Plan des Wasserbauinspectors Röder in Lippstadt mit einem Aufwand von 10.000.000 Mark wieder schiffbar gemacht und dadurch der früher bedeutende Handel Dorstens und die Schiffbauerei neu belebt werden.

Hochwasser an der Lippebrücke 1899

3. Sprach- und Religionsverhältnisse:

Die Bevölkerung Dorstens gehört der Hauptsache nach dem Zweige der Brukterer, des kräftigen, schweigsamen, am Alten hängenden und in sich abgeschlossenen Sachsenstammes an. Hierzu sind aus dem angrenzenden Rheinland einzelne fränkische Einwanderer gestoßen. Der weitaus größte Theil ist katholischen Glaubens, seit dem Jahre 1857 hat sich auch eine etwa 400 Seelen zählende evangelische Gemeinde gebildet, welche im Jahre 1890 eine neue Kirche erhielt. Von den alten einflussreichen Familien sind noch die von Raesfeld, von Wieck, Rensing, de Weldige, Rive, Pootmann und Humpherding vertreten. Im Jahre 1488 wurde das Franziskanerkloster gegründet, welches von 1642 an bis 1823 die Lehrkräfte für das Progymnasium stellte. Das Kloster der Ursulinerinnen wurde 1699 von zwei Gräfinnen zu Nesselrode gestiftet, mit welchem eine Töchter-Erziehungsanstalt verbunden wurde.

4. Pferderace, welche hauptsächlich in Benutzung:

Die Pferde, welche meist zur Bespannung der schweren zweirädrigen Karren verwendet werden, gehören größtentheils dem schweren, breitschuldrigen und großen Normännerschlage an.

5. Verkehrsdichte des Orts; Entwicklung des Handels und seiner Gewerbe; Hauptnahrungszweige der Einwohner:

Der Rhein mit dem schiffbaren Lippefluss war bis vor 50 Jahren der Hauptverkehrsweg Dorstens. Der Holzhandel ist heute noch bedeutend. Die Schiffbauerei hat aber nachgelassen. Die alte Poststraße zog westlich der jetzigen Chaussee nach Kirchhellen, Sterkrade und Essen. Die Bevölkerung treibt Gartenbau und Feldwirtschaft neben den verschiedenen Handwerken und dem Kleinhandel. Mehrere Brennereien und eine Altbierbrauerei sind vertreten. An Stelle der versandeten Lippe vermitteln 3 Eisenbahnen den Verkehr; die Cöln-Mindener seit 1872, die Bahnen von Oberhausen nach Rheine und von Essen nach Borken seit 1879. An industriellen Unternehmen sind vorgefunden eine Eisengießerei und Maschinenfabrik, eine Paperfabrik. Eine Spiegelglasschleiferei seit 1891, eine Cocos-Teppichfabrik, eine Seifenfabrik; eine Bleicherei für Seidengarn ist 1890 entstanden. Der Hauptverkehr wendet sich nach Essen (Ruhr), Wesel, Münster (Westf.), Cöln (Rhein) und Berlin.

Von links: Mathilde v. Lattorff, Christine Peus, Arthur von Lattorff, Bürgerneistergattin Geißler, davor die Mädchen Eggebrecht, von Cloedt und Cirkel (Foto: Familie Schürholz)

6. Behörden und Militairverhältnisse:

An Behörden sind vorhanden: Ein Königliches Amtsgericht mit zwei Richtern, eine Königliche Gewerbeinspection, eine Königliche Steuerkasse, ein Königliches Untersteueramt mit 1 Einnehmer. ein Königliches Katasteramt, eine höhere Töchter-Erziehungsanstalt im Ursulinerinnenkloster, ein Franziskanerkloster, zwei Eisenbahnstationen im Cöln-Mindener (jetzt Hervest-Dorsten) und Rheinischen Bahnhof (Bahnhof Dorsten). Auch ist hier der Feldwebel der 1. Compagnie, 5. Westfälische Landwehr Reg. 1/59 und die berittene Gendarmerie stationiert.

7. Sonstige Eigenthümlichkeiten des Orts bezeichnende Angaben

Die Bauthätigkeit in der Stadt selbst ist eine so unbedeutende, dass die vor 600 Jahren errichtete Stadtmauer noch größtentheils erhalten ist und der Verkehr mit der Außenwelt auf drei Jahre beschränkt ist. Von Vereinen ist nennenswerth der für Orts- und Heimatkunde, welcher bis 150 Mitgliedern sich die Erforschung der Vorgeschichte, sowie der früheren Kultur zum Ziele gesetzt hat; außer einigen Jahresberichten hat der Verein eine Geschichte Dorstens herausgegeben und verschiedene Alterthümer gesammelt, die im Hotel König aufbewahrt werden.

Dorsten - Der Drubbel

8. Gründung der Postanstalt

Der Postdienst wurde früher, ähnlich wie jetzt auch bei den Postagenturen, als Nebenbeschäftigung meist bei einer Gastwirtschaft und Posthalterei betrieben. So hatte der Postmeister Rive (1840) zugleich eine Gastwirtschaft und besaß 40 Pferde; nach seinem Tode wurde die Posthalterei von dem Postamte getrennt und soll sich zeitweise auch auf dem Gut Buerbaum, Alt-Schermbeck, und in Neu-Tüshaus befunden haben; 1879 ging sie ganz ein. Seit dem 1. November 1891 ist für Bahnpostfahrten eine Posthalterei eingerichtet. Dem Postamt wurden folgende Postagenturen zugetheilt: Die drei früheren Amter III. Klasse Kirchhellen 1876, Marl 1879, Wulfen 1879; ferner Gr. Reken 1880 – 1898, Lippramsdorf 1881 – 1898, Lembeck und Polsum 1882, Feldhausen 1886, Klein Reken 1889 – 1898. Als Postamtsvorsteher folgten aufeinander Postdirektor Dreiser, etwa 1800; Postmeister Rive bis 1840; Postmeister Melchers; Postmeister Heym; Postmeister Meyer; Postmeister Spanke von 5. 3. 1855 bis 31. 7. 1878. Militärpostdirektoren: Postdirektor von Lattorff vom 1. 11. 1875 bis 31. 10. 1888 (gest. 16. 10. 1907); Postdirektor Keller vom 1. 11. 1888 bis 1. 1. 1896 (gest. 1902); Postdirektor von Thumen vom 1. 4. 1896 bis 31. 8. 1898 (gest. 1903); Postdirektor Bayer vom 1. 9. 1998 bis 30. 3. 1900; Von Hugo vom 1. 4. 1900 bis 12. 9. 1905 (gest. 12. 9. 05); Zacher vom 1. 1. 1906 bis 31. 12. 1924; Postdirektor von Rothenburg ab 1. 2. 1925

9. Geschichte der Postverbindung des Orts; Fremdenverkehr

Vor der Anlage des Eisenbahnnetzes haben folgende Personenposten bestanden: Nach Recklinghausen über Marl, nach Oberhausen bis 1845, nach Wesel und Haltern bis 1873, nach Sterkrade, Bottrop, Essen und Borken bis 1879. An Stelle derselben sind die 3 Eisenbahnlinien getreten. Der Verkehr  mit Polsum und Marl vermittelt ein Privat-Personenfuhrwerk seit 1882, während Erle und Raesfeld durch eine Landpostfahrt seit 1886 mit Dorsten verbunden sind.

Dorstener Marktplatz 1899

10. Nachrichten über das Postgebäude

In früheren Zeiten sollen die Häuser des Rentners Happ und des Kaufmanns Urban Drecker am Markt, sowie das Haus der Frau Dr. Heß, Katasteramt in der Recklinghäuser Straße, Postgewerken gedient haben. Der Postmeister Rive besaß das Haus des Kaufmanns Emmanuel de Weldige nebst der Hälfte des dem Schneiders Albert Besten gehörigen Hauses, wo früher der Poststall stand (Posthalter Schmitz). Das jetzige Haus wurde im Jahre 1880 von dem Postdirektor von Lattorff gekauft und im Jahre 1884 an die Postverwaltung verkauft, jedoch ohne die früher dazu gehörigen Hintergebäude jenseits der Gasse. Das Haus soll von einem früheren Bürgermeister de Weldige erbaut sein und wurde von der Häuserpostverwaltung an die Stadtverwaltung Dorsten im Jahre 1902 verkauft.

11. Charakterzüge des Brief- und Fahrverkehrs, z. B. nach welchen Gegenden derselbe vorzugsweise gerichtet ist; ob und welche besondere Gewerbe sich hauptsächlich an dem Pack- und Geldverkehr beteiligen; ob viel Postverkehr mit dem Auslande stattfindet und speziell mit welchen Ländern:

Die 3 hier sich kreuzenden Bahnlinien und 9 zugeteilten Postagenturen versprechen einen Durchgangsverkehr nach 6 verschiedenen Richtungen. Eingezahlte Postanweisungen gehen viel nach Essen (Ruhr), Münster (Westf.) und Wesel, woher mindestens die meisten Pakete kommen. Die Teppichfabrik und Papierfabrik versenden ihre Erzeugnisse nach allen Richtungen. Größtentheils jedoch mit der Eisenbahn, während die Geldsendungen dafür mit der Post versendet werden. Die Glas- und Spiegelmanufaktur, Seifenfabrik und die Garnbleicherei sowie die Maschinenfabrik, unterhalten mehr Verbindungen mit den Industriebezirken. Aus dem benachbarten Holland kommen häufig Tabak, Blumenzwiebel- und Rauchfleischsendungen. Letzteres nebst Geflügel auch aus Österreich-Ungarn. Das Bankhaus F. J. de Weldige-Cremer vermittelt die Wechselforderungen, wodurch am 1. und 15. jeden Monats eine erhebliche Zahl Postaufträge, zeitweise gegen 100 Stück im Betrage von 15.000 M. an einem Tage zu erledigen sind.

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Quelle: Auskunft Familie von Hugo, Windelsbach (Mittelfranken).

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2 Kommentare zu Postdirektor legte Bestandsaufnahme über die Post und die städtischen Verhältnisse der kgl.-preußischen Regierung vor – Eine Beschreibung aus dem Jahre 1890

  1. admin sagt:

    Sehr geehrter Herr Schürholz! Um Ihre Frage zu beantworten: Der letzte Dorstener de Weldige, Josef, ging mit seinem Bankhaus 1958 in Konkurs, das 1880 gegründet worden war. Nach dem Zweiten Weltkrieg gingen die Geschäfte dieser Privatbank so schlecht, da sie gegenüber den Großbanken, die in Dorsten Filialen eröffnet hatten, nicht mehr konkurrenzfähig war. Noch heute existiert eine de Weldige-Familienstiftung, die von der Rendantur der katholischen Kirchegemeinde St. Agatha verwaltet wird. Angehörige dieser Familien wohnen heute nicht mehr in Dorsten. Es gibt sie u. a. in Oberhausen, Mönchengladbach, Berlin und Dinslaken. W. St.

  2. Wilhelm Schürholz sagt:

    Ein höchst interessanter Artikel – Kompliment, Herr Stegemann, für diese Recherche.
    Interessant sind die Namen alter Familien, von denen in Dorsten nicht mehr viel präsent ist. Was ist z.B. aus der sehr wohlhabenden, traditionsreichen Familie de Weldige geworden? Herr von Lattorf hatte in den fast 15 Jahren seiner Funktion einen sicherlich nicht unbedeutenden Einfluss auf das Dorstener Gesellschaftsleben. Das abgebildete Foto ist ein Auszug vom Thronfoto der Dorstener Alstadtschützen (welche auch sonst?) von 1879 und zeigt ihn mit seiner Königin Frau Peus. Meines Wissens ist dies das älteste Thronfoto der Dorstener Altstadtschützen überhaupt. Frau Peus war Eigentümerin des Hauses Markt 6, zu der Zeit ein Hotel. Das Gebäude war danach eines der Rathäuser unserer Stadt. Allein dieses geschichtsträchtige Haus lohnt eine weitere Recherche…. Beste Grüße Wilhelm Schürholz

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