Historische Charakterisierung der “Dorstener” Landbevölkerung – zu früh entwickelter Geschlechtstrieb

David Teniere "Tanzende Bauern", Städel-Museum Frankfurt

W. St. – Vor kurzem antwortete mir ein gebürtiger Dorstener, dessen Familie bereits seit Urgroßvaters Zeiten hier ansässig ist, auf die Frage, warum Dorstener so seien wie sie sind, folgendes: „Sie sind so, weil sie eigentlich noch in ihren Festungsmauern leben, weil die nicht mehr vorhandenen Zugbrücken immer noch einschränken, weil die Lippe immer noch trennt, die Stadtteile immer noch Dörfer sind und die Kirche immer noch in der Mitte steht.“ Ich wollte nicht nachfragen und tiefer forschen, sondern blätterte in historischen Schriften, um Quellen zu finden, warum Dorstener, zu denen heute auch die Einwohner der einst die Stadt umgebenden Dörfer gehören, so sind, wie sie sind. In diesem Fall eine augenzwinkernde und nicht ganz ernst zu nehmende Tätigkeit und historische Beurteilung.

Amtmann Franz Brunn: erheuchelte Demut

Amtmann Franz Brunn aus Wulfen (Ämter Lembeck und Altschermbeck) beschreibt zwischen 1840 und 1842 in der amtlichen Chronik der Herrlichkeit Lembeck die Lebensweise der Eingesessenen und meint dabei vermutlich die Zeit um die Wende des 18./19. Jahrhunderts:

Zum Charakter: „Der Körperbau der hiesigen Eingesessenen war schlank, kräftig und gesund. Personen von 10 bis 12 Zoll und 180-220 Pfund waren keine Seltenheit, hagere Gestalten weit häufiger als große Fettleibigkeit. Ihre Lebensart war einfach, mehr schmutzig als reinlich, ihre Betriebsamkeit nicht sonderlich. Ein gesunder, wenngleich wenig ausgebildeter Verstand war überall anzutreffen. Ein religiöser Sinn und ein tiefes Gefühl für Sittlichkeit machten einen Hauptzug ihres Charakters aus, ebenso wie eine erheuchelte Demut, Erbitterung und Misstrauen gegen die Machthaber. Obgleich von Aberglauben noch nicht ganz frei, dienten die Hexen- und Gespenstergeschichten schon längst zu ihrer Belustigung.“

Zur Wohnweise: „Sie bewohnten ein Haus, welches je nach dem Bedürfnisse aus mehreren hölzernen Gebinden bestand, die durch Lehmwände ausgefüllt waren. Das Dach war mit Stroh eingedeckt. In einem oder zwei Seiteneinbauten war die Stallung fürs Vieh und einige Kammern und Bühnen zu Schlafstellen angebracht. Der mittlere Raum diente als Dreschtenne und im oberen Teile waren Herd und Küche, wo die ganze Haushaltung um ein großes Feuer ihren Platz, Licht und Wärme fand.

Die Hausmutter konnte vom Herde aus das ganze Hausgesinde und zugleich das Vieh überschauen. Schornsteine kannte man erst später. Früher fand der Rauch seinen Ausgang durch ein kleines Fenster. In späterer Zeit trennte man auch die Küche und die Tenne vermittelst zweier großer Flügeltüren (Windfang) doch so, dass diese offengestellt, beim Einfahren die Pferde bis an den Herd geführt werden und die Hausfrau beim Dreschen wenigstens das Stroh umwenden konnte. Später wurden hie und da in besonderen Anbauten Stuben für Weben und Spinnen angebaut und die Strohdächer und Lehmwände mit Ziegeln ersetzt, statt der Lehmflure in die Kammern Bretterflure gelegt, und allmählich die Häuser bis zur jetzigen Bequemlichkeit gebracht.“

 Zur Kleidung: „Die Kleidung bestand aus selbst verfertigter grauer und weißer Leinwand und Drillich für den Sommer und aus einem Mengtuch aus Schafswolle und Leinen, so genanntes Futterlaken, für den Winter. Auch schaffte sich jeder Mann, wenn er heiratete, einen dreieckigen Hut und einen Rock von grobem dickem Tuche an, die fürs ganze Leben aushielten. Die Frauen trugen im Winter ebenfalls wollne Röcke und Jacken.“

Zur Nahrung: „Die Nahrung war sehr einfach und solide. Kaffee und Zucker waren unbekannte Dinge. Fleisch wurde wenig gegessen, und selbst in großen Haushaltungen schlachtete man höchstes zwei Schweine oder eine Kuh und ein Schwein. An zwei Tagen in der Woche wurde kein Fleisch gegessen. Dagegen war der Bierkrug sehr beliebt. Käse, besonders Ctent [Cantent, Comtent oder Cantant, Comtant?], Brot und Bier bildeten die einzigen Genüsse bei den Jahresfesten der Gilde und manchen anderen festlichen Gele- genheiten.“

Revolutionsflüchtling Paillot: misstrauisch gegenüber Verbesserungen

Der französische Revolutionsflüchtling Pierre-Hippolyte-L. Paillot verbrachte auf der Flucht 1789 einige Wochen in Dorsten. In dieser Zeit besuchte er auch Lembeck und charakterisiert zur gleichen Zeit wie Brunn in seinem Tagebuch die Lembecker folgendermaßen:

  • „In Rücksicht der Sitten stehet der Bauer hier vor dem Landmanne in anderen Gegenden Deutschlands sehr zurück. Lebt er isoliert, entfernt von Städten und Ämtern [], sind die rauen Ecken seines Geistes durch das Militär nicht abgeschliffen, so hat seine Plumpheit und Grobheit den höchsten Grad erreicht. Eine höchst schmutzige und säuische Lebensart ist ihm zur Natur geworden. Er lebt mit Schweinen, Gänsen und Hühnern auf verschlossenen Stuben, die selten gereinigt werden []. Die Menschen leben und sterben in ihrem eigenen Unrat. Daher dann die häufigen Anfälle von Dumpf- und Faulfieber und anderen Krankheiten []. Durch die eingewurzelte Vertraulichkeit beider Geschlechter und die schamlose Unbefangenheit, womit auch die Eheleute von Dingen sprechen, die kein Ohr des Jünglings oder der Jungfrau hören sollte, wird unter dem Volke der Geschlechtstrieb zu früh entwickelt und in Gärung gebracht [].“

Weiter schrieb Paillot, dass der unbegüterte Bauer mit seinem Weibe und seinen Kindern und oft mit dem Gesinde in einem Bett schlafe. Außerdem sei die Trunksucht ein weit verbreitetes Laster.

  • „Er ist misstrauisch gegen neue Entdeckungen, Kunstgriffe, ökonomische Vor- teile und vorzüglich gegebene Vorschläge, welche Verbesserungen des öffentlichen Gottesdienstes und des Schulwesens zum Zwecke haben, und er erkennt die Kurzsichtigkeit und Eingeschränktheit seines Verstandes erst dann, wenn ihm die nützlichen Folgen sonnenklar in die Augen leuchten.“

Soweit Paillot vor über 200 Jahren über den Lembecker Bauernschlag.

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Quellen: Das in Kürze erscheinende Dorsten-Lexikon. – Wolf Stegemann „Revolutionsflüchtling verschlug es nach Dorsten“ in RN vom 14. Juli. 1989.

 

 

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